Pflege ist mehr als reine Routine – insbesondere in der Onkologie
"Hohe Kompetenz; schnell Entscheidungen treffen; Notfallsituation erkennen; Verantwortung übernehmen; Wachsam sein; palliative Situationen aushalten" – das sind nur ein paar der Aufzählungen, mit denen Susanne Blöß beschreibt, was für sie eine Fachkraft für Onkologische Pflege ausmacht.
Susanne Blöß arbeitet seit 1990 in der MHH und war seither in unterschiedlichen Positionen tätig. Ihre Ausbildung hat sie zur Kinderkrankenschwester gemacht. Ihre Wurzeln liegen in der Kinderonkologie. Mittlerweile ist sie akademisierte Pflegekraft mit Masterabschluss und arbeitet im Onkologisch Pflegerischen Konsiliardienst (OPK) der MHH. Dort betreut und berät sie Patientinnen und Patienten nach einer Knochenmarktransplantation (KMT) sowie deren Angehörige.
Anlässlich des Weltkrebstages 2023, der an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in diesem Jahr auch der Tag der Onkologischen Pflege ist, haben wir mit Susanne Blöß über die Arbeit und ihre Erfahrungen in der onkologischen Pflege gesprochen, und was sie am meisten an diesem Beruf schätzt.
Frau Blöß, warum haben Sie sich für die Pflege in der Onkologie entschieden?
Ich komme ja ursprünglich aus der Kinderonkologie. Dort haben wir immer über neue Mitarbeiterinnen gesagt: „Entweder man kommt, guckt und bleibt oder man kommt, guckt und geht“. Warum ist das so? Die onkologische Pflege ist herausfordernd in vielerlei Hinsicht. Zum einen muss man die unterschiedlichen Therapieansätze verstehen, das erfordert naturwissenschaftliches Interesse. Technisches Einfühlungsvermögen muss vorhanden sein – Infusionsregime selbstständig aufbauen, aber auch durchführen – gleichzeitig muss man die Patienten überwachen und stetig im Blick haben, kleinste Veränderungen bemerken und darauf reagieren. Diese Beobachtung umfasst die Überwachung der medizinischen Parameter, der Blutwerte, aber auch Veränderungen im Wesen der Patienten. Du musst immer gesprächsbereit sein, die Eltern und Angehörigen unterstützen und schulen. Familiensysteme erfassen und im multiprofessionellen Team kommunizieren. Die Aufgabe ist sehr komplex und vielfältig. Jeden Tag beschäftige ich mich mit den existentiellen Herausforderungen des Lebens. Mein ganzes Berufsleben ist mir der Tod aber auch das Leben und Überleben sehr nahe. Ich kann mich nicht verstecken und die Herausforderung ist der „professionelle Umgang mit Nähe“ - denn Pflege ist Beziehungsarbeit. Ich unterstütze die Betroffenen dabei mit den Herausforderungen der Erkrankung, der Therapie und den Komplikationen umzugehen und diese in ihre Lebenswelt zu integrieren.
Was macht Ihrer Meinung nach eine Fachkraft für Onkologische Pflege aus?
Die Bereitschaft sich auf Menschen und deren An- und Zugehörige in Extremsituationen einzulassen; eine hohe medizinische und pflegerische Kompetenz; schnelle Entscheidungen selbstständig zu treffen; Notfallsituation zu erkennen; Verantwortung zu übernehmen; wachsam sein; palliative Situationen auszuhalten; Betroffene über den Behandlungsverlauf zu begleiten; Offenheit und naturwissenschaftliches Interesse und die Bereitschaft neue Therapieoptionen nachzuvollziehen; Beziehungsarbeit zu leisten und Neugier.
…was schätzen Sie am meisten an dem Beruf?
Die onkologische Pflege und das Setting, indem sie sich bewegt, bietet viele persönliche Entwicklungsmöglichkeiten, da immer wieder neue Projekte entwickelt werden müssen, um die Behandlung der Patienten zu optimieren. In der pädiatrischen Onkologie ist die wertschätzende Arbeit in multiprofessionellen Team Standard. Gemeinsam wird zum Wohle der Patienten sowie der Angehörigen an einem Strang gezogen. Visiten finden zum Beispiel nie ohne die betreuende pädiatrische Pflegekraft statt. Jeder hat Sprechrecht und wird gehört. Der Austausch findet auf Augenhöhe und gegenseitigem Respekt miteinander statt, um die optimale Therapieentscheidung für die Betroffenen zu finden, die dann vom gesamten Team mitgetragen werden kann. Damit bestimmte Entscheidungen transparent und nachvollziehbar sind. Das Lernen hört nicht auf und jeder Tag bringt neue Herausforderungen. Zudem halte ich die Arbeit die wir tun, für gesellschaftlich relevant. Krankenhäuser sind ein Ort, in dem Bedürftige in Extremsituationen Zuflucht, Hilfe und Unterstützung finden – unabhängig vom Geschlecht, Herkunft und Religion. Diesen Ort kann ich mitgestalten.
Ihr bislang schönstes Erlebnis in der onkologischen Pflege?
…ist zugleich ein trauriges. Es ist die Geschichte von Anton und seinen Eltern. Anton wurde mit einem schweren Immundefekt geboren, sodass er im Alter von sechs Wochen knochenmarktransplantiert werden musste. Er war das erste Kind seiner Eltern. Die Knochenmarktransplantation (KMT) führte nicht zum gewünschten Erfolg, sodass Anton eine zweite KMT über sich ergehen lassen musste, die weitreichende Komplikationen mit sich brachte. Eine sehr lange Zeit in der Klinik war die Folge. Seine Mutter betreute ihn und blieb an seiner Seite. In der Phase, als es endlich zur Entlassung kommen konnte, war klar, dass die Familie Unterstützung im häuslichen Setting benötigen würde, da Anton nur mit einer Magensonde und künstlicher Ernährung über den Port entlassen werden konnte. Diesen Prozess habe ich in meiner damaligen Position initiiert und verantwortlich begleitet. Ich dachte, dass es eine Entlastung für die Eltern wäre, wenn der Pflegedienst alle medizinischen und pflegerischen Aspekte übernimmt. Das stellte sich als Trugschluss heraus. Die Mutter, die ihr Kind so lange in der Klinik betreut hatte, konnte aus Angst diese Aufgaben nicht an den Pflegedienst abgeben. Sie wollte zum Beispiel lieber selbst die parenterale Ernährung mischen, notwendige Antibiotka und die p.o. Medikamente aufziehen und verabreichen. Ich habe mich dem Wunsch gebeugt und einen ambulanten Pflegedienst gefunden, der trotzdem an der Seite der Eltern stand, dabei war und die Mutter entlastet hat, in den Bereichen, die für sie eine Entlastung darstellten. Zum Beispiel beim Bügeln und Wäsche zusammenlegen. So konnte die Familie gemeinsam Zeit Zuhause verbringen.
Anton starb im Alter von knapp 2 Jahren – tatsächlich unerwartet plötzlich an einer Sepsis. Eine Kollegin und ich fuhren zur Beerdigung. Als wir am Grab des Jungen standen, haben sich die Eltern bei mir bedankt für die geschenkte Zeit Zuhause. Ich blickte den Hügel hinab und war froh, dass ich dem Wunsch der Mutter nachgegeben hatte und die ungewöhnliche Lösung mitgetragen habe. Das hat mich gelehrt, noch mehr auf die Betroffenen und deren Angehörige zu hören und vernünftige Lösungen für Probleme zu finden, die in die jeweilige Lebenswelt passen. Wir lernen von unseren Patienten und deren Angehörigen, wenn wir zuhören.