Ein Blick zurück: Die Entwicklung der Tumordokumentation im Wandel der Zeit
Über vier Jahrzehnte hat Dr. Bernd Günther in der MHH gearbeitet – seit Beginn waren onkologische Versorgungsstrukturen sein Steckenpferd. Zuletzt leitete er die Tumordokumentation im Haus. Seit Jahresbeginn ist er nun im Ruhestand. Im Interview spricht er über seine Zeit an der MHH und die Entwicklung der Tumordokumentation, die heute ein zentraler Bestandteil der Onkologie ist.
Stand: 18.03.2025

Dr. Günther, Sie haben 43 Jahre in der MHH gearbeitet. Welche Stationen haben Sie an der MHH durchlaufen?
Ich war die gesamte Zeit in der Krebsmedizin tätig, zuerst im Tumorzentrum der MHH, später im Comprehensive Cancer Center – eine Weiterentwicklung des Tumorzentrums unter neuer Namensgebung. Bis 2024 übernahm ich auch administrative Aufgaben in der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation. Diese Doppelfunktion entstand, weil das Tumorzentrum bis 1995 zur Klinik gehörte und wesentliche Impulse von dort kamen. 1995 wurde es dann eine eigenständige Einrichtung der MHH mit Satzung und gewähltem Vorstand.
Was hat Sie dazu bewegt, in der Onkologie zu arbeiten?
Das war keine bewusste Entscheidung, sondern ein Zufall des Lebens. Im November 1981 begann ich an der MHH – eine Zeit großer Umbrüche in der Krebsmedizin. Neue Therapieansätze führten zu Fortschritten, gleichzeitig gab es Kritik an der unzureichenden Versorgung. In dieser Phase entstanden die ersten Tumorzentren, die Deutsche Krebshilfe wurde gegründet, und die Bundesregierung startete Förderprogramme. An der MHH initiierten Professor Hubert Poliwoda und Professor Volker Diehl um 1980 das „Onkologische Kooperationsmodell Hannover“. Ziel war eine flächendeckende, hochwertige onkologische Versorgung durch Unterstützung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte und regionaler Kliniken. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, dass es sich um das erste große „Outreach-Progamm“ der deutschen Krebsmedizin gehandelt hat. Das Projekt beinhaltete auch ökonomische und sozialmedizinische Begleitforschungen. Hier kam ich ins Spiel: Nach meinem wirtschaftswissenschaftlichen Diplom an der Universität Hannover und gesundheitsökonomischer Arbeitserfahrung wurde ich Projektmitarbeiter, später Koordinator des Tumorzentrums.
Was war für Sie persönlich die größte Motivation, so lange für das Krebszentrum an der MHH arbeiten?
Nahezu alle Aufgaben im Tumorzentrum, heute CCC, basieren auf Daten der Tumordokumentation – von Patientenbehandlung und klinischen Studien bis hin zu Qualitätssicherung und Zertifizierungen. Sie ist eine zentrale Grundlage der Krebsmedizin und erfordert fundierte Kompetenzen. Mich motivierte die thematische Vielfalt, die den Arbeitsalltag spannend hielt. Früher war unser Team noch viel kleiner als heute, weshalb Allrounder-Qualitäten gefragt waren. Ich war an Projekten wie der ersten Studienzentrale der Deutschen Hodgkin-Studiengruppe, dem „MEDKOM“-Videokonferenznetz, der Redaktion der „Onkologischen Mitteilungen für Niedersachsen“ und der Entwicklung eines Dokumentations- und Nachsorgesystems für ganz Niedersachsen und Bremen beteiligt. Auch die Konzeption und Etablierung neuer Versorgungsangebote, die Organisation von Fortbildungen und die Budgetverwaltung gehörten dazu. Besonders schätzte ich das innovative Klima der Hochschulklinik, die Zusammenarbeit mit engagierten Kolleginnen und Kollegen sowie das produktive Umfeld an der MHH.
Welche Rolle spielt die Tumordokumentation heute im Vergleich zu Ihrer Anfangszeit in Bezug auf Forschung und Patientenversorgung?
Die Tumordokumentation hat sich von einem „nice to have“ zu einem „must have“ entwickelt. In der alten Bundesrepublik gab es nur ein epidemiologisches Krebsregister im Saarland, sodass valide Rückschlüsse auf andere Regionen unmöglich waren. Ab 1980 begannen Tumorzentren, systematisch Diagnosen und Behandlungen zu erfassen – auch an der MHH. Ziel war es, die Dokumentation in den klinischen Alltag zu integrieren und den Ärztinnen und Ärzten zum Beispiel durch aktuelle Epikrisen einen Mehrwert zu bieten. Der kontinuierliche Ausbau erhöhte den Wert des Registers und steigerte das ärztliche Interesse an Auswertungen und Projekten. Heute gibt es seit über 20 Jahren eine flächendeckende epidemiologische Krebsregistrierung und seit 2018 eine klinische Krebsregistrierung in ganz Deutschland – beide mit gesetzlichen Grundlagen und verpflichtenden Meldungen. Entscheidend ist, dass die Register Ergebnisse liefern und Klinikern sowie Forschenden Daten zur Verfügung stellen können. Zudem besteht seit rund 20 Jahren das Zertifizierungssystem der Deutschen Krebsgesellschaft, inzwischen für nahezu alle Entitäten. Ohne Daten und Tumordokumentation ist keine Zertifizierung möglich. Auch nationale Forschungsnetzwerke erwarten Daten für gemeinsame Projekte. Kurzum: Die Tumordokumentation ist heute ein integraler Bestandteil onkologischer Forschung und Patientenversorgung – ein langer, mühevoller Weg, der auch noch nicht am Ziel ist.
Wie haben sich die Anforderungen an die Tumordokumentation verändert, besonders mit der zunehmenden Bedeutung von digitalen Systemen, Big Data und KI?
Die Tumordokumentation ist heute umfangreicher, spezifischer und aktueller. Mit der Vielfalt an Diagnosekriterien sind die zu erfassenden Daten gewachsen, besonders für Zertifizierungen. Während früher Schwerpunkte gesetzt wurden, müssen heute alle Patientendaten vollständig erfasst werden – oft unter Zeitdruck, etwa mit vierwöchigen Meldefristen. Digitale Systeme erleichtern den Zugriff, schaffen allein aber nicht die inhaltliche Qualität. Wichtige Informationen fehlen oft oder sind unzureichend klassifiziert. Ein Problem bleibt die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach validen Daten und der Bereitschaft, zur Qualität beizutragen. Ärztinnen und Ärzte leiden unter redundanter Dokumentation für Aktenführung, Abrechnung, Qualitätssicherung oder Studien. Statt vorhandene Daten zu nutzen, entstehen immer wieder neue Dokumentationspflichten, was die eigentliche Patientenversorgung erschwert. Schlagworte wie Digitalisierung, KI und Big Data allein lösen keine Probleme. Bis die Medizininformatik praktikable Lösungen bereitstellt, sind es oft lange und mühsame Wege. Bei häufig unvollständigen Daten und schlechter Dokumentationsqualität braucht es derzeit noch viel natürliche Intelligenz und Handarbeit, um die Tumordokumentation auf dem geforderten Niveau zu halten. Ich sehe in den neuen Techniken durchaus Potentiale und man sollte immer optimistisch bleiben.
Welche Entwicklungen haben Sie in der Krebsmedizin beobachtet? Welche Rolle wird die Tumordokumentation in Zukunft spielen?
Als ich 1981 an der MHH begann, herrschte große Euphorie in der Krebsmedizin – viele hätten bis zum Jahr 2025 sicherlich größere Fortschritte prognostiziert. Doch viele Erwartungen erfüllten sich damals wie auch später bei neuen Substanzen oder Therapiekonzepten nicht wie erhofft. Fortschritte sind unbestreitbar: mehr Heilungen, längere Überlebenszeiten, bessere Verträglichkeit von Therapien. Doch die Zahlen zeigen auch Grenzen: 2023 starben in Niedersachsen 23.133 Menschen an Krebs – rund 2.000 mehr als 2006. Die Sterberate verharrt bei rund 45 Prozent der Neuerkrankungen. Wichtig ist, dass alle Krebspatientinnen und -patienten nach dem besten Stand der Wissenschaft behandelt werden. Studien wie WiZen aus dem Jahr 2022 belegen bessere Überlebenschancen in zertifizierten Zentren. Das bedeutet, nicht alle Patientinnen und Patienten erhalten Therapien mit Ergebnissen, wie sie möglich wären – ein unhaltbarer Zustand für das Gesundheitssystem. Tumordokumentation und klinische Krebsregister sind essenziell, um solche Versorgungsdefizite aufzudecken. Mein letztes Projekt, der „Onkologische Versorgungsatlas für Niedersachsen“, soll genau dies leisten. Ich hoffe, er wird unter breiterer Beteiligung weiterentwickelt, um kontinuierlich die Qualität der Krebsversorgung zu verbessern.
Nachdem Sie nun in den Ruhestand gegangen sind, wie blicken Sie auf Ihre Zeit an der MHH zurück? Worauf sind Sie Stolz?
Ich blicke positiv auf mein Berufsleben zurück. Ich hatte spannende Aufgaben in einem interessanten Aufgabengebiet. Ich konnte dazu beitragen, dass manche Projekte und Prozesse ganz gut gelaufen sind. Insofern bin ich überwiegend zufrieden, mit dem was ich geleistet habe. Gefreut hat mich vor allem das Interesse von neuen und jungen Kolleginnen und Kollegen, denen ich nicht nur etwas MHH-Geschichte beibringen konnte, sondern ihnen auch immer wieder gerne kleine Führungen durch die MHH gegeben habe. Nach über 40 Jahren kennt man dann doch nahezu alle Ecken. Mit dem Wort „Stolz“ habe ich wiederum ein Problem. Dazu ist zu wenig abgeschlossen und es gibt, wie dargestellt, noch viele Baustellen und viel zu tun.
Welche wichtigste Lektion würden Sie jungen Kolleginnen und Kollegen für die Tumordokumentation oder Krebsmedizin mitgeben?
Je mehr man weiß und kann, desto mehr Freude hat man bei und an der Arbeit und umso erfolgreicher kann man sein. Ich glaube, dass es wichtig ist, alle Möglichkeiten zu nutzen, um sich fort- und weiterzubilden, um das Gesamtsystem Krebsmedizin und onkologische Versorgung zu verstehen.
Interview/ Text: Maike Isfort