Aller guten Dinge sind vier!
Simone, seit 1978 viermal nierentransplantiert
Mein Name ist Simone, ich bin 52 Jahre alt, verheiratet und lebe in Minden. Seit meinem 7. Lebensjahr bin ich nierenkrank. Meine erste Begegnung mit der MHH war am 21.06.1976, Sommeranfang. Ich wurde vom Mindener Krankenhaus in die MHH verlegt. Aufgenommen hat mich seinerzeit ein junger Stationsarzt. Sein Name war Dr. Ehrich, später Professor Dr. Ehrich.
Das waren noch „angenehme“ Zeiten
Zwei Jahre konnten die Ärzte meine Nierenfunktion noch aufrechterhalten. Aber es half nichts, im Alter von 9 Jahren musste ich an die Hämodialyse.
Anfangs war ich mit zwei Jugendlichen (Heiner und Carola) an der Dialyse. Wir waren montags, mittwochs und freitags dran, die Erwachsenen dienstags, donnerstags und samstags. Das waren noch „angenehme“ Zeiten. Die Krankenschwestern hatten viel Zeit für uns. So haben mir die Schwestern abwechselnd immer wieder einzelne Kapitel aus dem Buch „Die kleine Hexe“ vorgelesen. Oder sie haben mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Um Heiner zu ärgern, machten die Schwestern und Frau Prof. Dr. Offner gerne einen Spaß und spielten öfters das Lied der Schlümpfe. Heiner rief dann immer: „Macht diesen Scheiß aus!“ Heiner und Frau Prof. Dr. Offner spielten auch gerne eine Partie Schach.
Bei Frau Prof. Dr. Offner möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken, denn sie war immer für „ihre Kinder“ da.
Zwar war die Medizin noch nicht so weit fortgeschritten wie heute, aber meinem Empfinden nach ging es damals in mancher Hinsicht menschlicher und ruhiger zu als heute.
„Dr. Tidow hat mir ja meinen Bauchnabel durchgeschnitten!“
Nach einem halben Jahr Dialyse erhielt ich im September 1978 meine erste Niere, die jedoch am nächsten Tag aufgrund eines Blutgerinnsels wieder entfernt werden musste.
Im Oktober 1978 bekam ich von meinem Vater eine Lebendspende. Leider gab es bei dieser Transplantation sehr viele Probleme. Ich wurde mehrfach operiert. Entweder war die Niere eingeengt, es blutete irgendwo oder es kam ein Darmverschluss dazwischen.
Ich erinnere mich allerdings an einen lustigen Zwischenfall nach der Darmverschluss-OP: als ich die OP-Narbe sah, sagte ich ganz entsetzt: „Dr. Tidow hat mir ja meinen Bauchnabel durchgeschnitten!“ Dr. Tidow war mein Chirurg und hatte einen markanten Bart: je ein Bartzipfel links und rechts der Mundwinkel und einen Bartzipfel mittig am Kinn. Ich fand es toll, dass sich Dr. Tidow Zeit für mich nahm. Ganz aufgeregt kam er an und fragte: „Was soll ich getan haben? Ich habe doch fein säuberlich um deinen Bauchnabel herum geschnitten!“ Das kann ich eindeutig bestätigen, mein Bauchnabel ist noch heil.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt einfach keinen Bock mehr, operiert zu werden, lieber wollte ich sterben.
Dann kam jedoch wieder der Ernst in mein Leben. Nach ca. zwei Wochen, es war die Nacht des 9. November 1978, riss bei mir die Hauptarterie zum rechten Bein. Ich drohte innerlich zu verbluten. Noch mitten in der Nacht musste ich notoperiert werden. Meine Mutter, die zu dem Zeitpunkt im Schwesternwohnheim in einem Appartement untergebracht war, wurde herbeigerufen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt einfach keinen Bock mehr, operiert zu werden, lieber wollte ich sterben. So habe ich das auch meiner Mutter gesagt. In dieser Notsituation bat sie mich noch einmal um diese eine OP. Und sie versprach mir, dass dies die letzte OP sei.
Also landete ich wieder auf dem OP-Tisch von Dr. Tidow. Während der OP erlitt ich einen Herzstillstand, aber ich konnte wiederbelebt werden, die OP wurde beendet. Die Blutung konnte jedoch nicht komplett gestoppt werden, deswegen sollte ich erneut operiert werden. Selbst Professor Pichlmayr wurde hier zu Rate gezogen. Doch meine Mutter hielt ihr Wort, das sie mir gegeben hatte. Eine weitere OP blieb mir erspart. Daraufhin baten die Ärzte meine Eltern, sich zu überlegen, ob sie die lebenserhaltenen Geräte nicht abschalten lassen wollen. Meine Eltern entschieden sich für ein Abschalten der Geräte. Aber dann passierte ein Wunder. Ein Abschalten war nicht mehr möglich. Seitens der Ärzte hieß es: „Simone kämpft, es hat aufgehört, innerlich zu bluten!“ So kam ich langsam wieder ins Leben zurück.
Gerade dem Tod entkommen malte ich eine Blumenvase mit vielen bunten Blumen.
Als ich aus der Narkose erwachte und auch der Tubus entfernt war, habe ich zuerst Frau Prof. Dr. Offner wahrgenommen. Die Bänder der Haube ihrer Schutzkleidung waren so merkwürdig auf dem Kopf verknotet, sie sah aus wie Witwe Bolte.
Dann erinnere ich mich noch, dass ich malen wollte. Gerade dem Tod entkommen malte ich eine Blumenvase mit vielen bunten Blumen. Das hat Frau Ostermann sehr beeindruckt. Frau Ostermann war evangelische Seelsorgerin, die gute Seele der Kinderklinik und ich hatte sie sehr gerne. Sie fragte mich, ob ich ihr das Blumenbild nach meiner Entlassung schenken könnte, was ich selbstverständlich auch tat. Das Bild hing bis zu ihrem Ruhestand in ihrem Büro. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 standen wir regelmäßig in Kontakt und haben Geburtstags-, Oster-, Weihnachts- und Urlaubsgrüße ausgetauscht.
Wirklich niederschmetternd war für mich allerdings die Erkenntnis, dass in der Not-OP die Niere, die mein Vater mir gespendet hatte, nicht gerettet werden konnte und ich somit wieder dialysepflichtig wurde. Zudem musste ich das Laufen neu erlernen, da meine Muskulatur total abgebaut hatte.
Einen Dank möchte ich an dieser Stelle allen Krankenschwestern der Station 64 b aussprechen, die meinen Eltern und mir in unserer schweren Zeit zur Seite gestanden haben.
Dann kam der Winter 1978/1979. 3 x die Woche musste ich von Minden nach Hannover an die Dialyse. Meistens bin ich mit meinen Taxifahrern Herrn Finke oder Herrn Quint allein zur Dialyse gefahren. Die Fahrt dauerte in der Regel 1¼ Stunden. An einem Tag in jenem Winter begleitete mich meine Mutter. Für die Rückfahrt haben wir ca. 4 Stunden benötigt. Kaum waren wir zu Hause, rief die MHH an. Die Ärzte befürchteten, dass ich aufgrund des vielen Schnees nicht rechtzeitig zur nächsten Dialyse kommen könnte und wollten mich daher gleich am nächsten Tag stationär aufnehmen.
Auch Katharina und Thea teilten mein Schicksal und wurden wegen der Schneemassen stationär aufgenommen. Katharina saß mit ihrem Taxifahrer sogar auf der A7 fest und musste von der Bundeswehr „befreit“ werden.
Nach den 9 Jahren mit meiner 3. Niere kam ich 1988 wieder an die Dialyse.
Im Oktober 1979 erhielt ich meine 3. Niere. Die Niere lief super und nach 3 Wochen wurde ich entlassen. Kaum zu Hause erlitt ich eine so heftige Abstoßung, dass die Ärzte schon die Befürchtung hatten, ich würde auch dieses Transplantat wieder verlieren. Jedoch zeigten die Therapien Wirkung. Die Niere fing wieder an zu arbeiten, allerdings sehr viel schlechter als vor der Abstoßung. Sie hielt aber immerhin 9 Jahre.
Während dieser 9 Jahre mit meiner 3. Niere bekam ich als Jugendliche die Nebenwirkungen des Immunsuppressivums Sandimmun optoral, welches Schleimhautwucherungen verursacht, voll zu spüren. Ich hatte heftige Probleme mit meiner Periode. Diese Problematik war den Nephrologen in der Kinderklinik seinerzeit völlig fremd. Meine Mutter sprach das Thema in der Ambulanz an, aber die Ärzte haben uns wirklich nicht richtig ernst genommen. Erst als ich fast verblutet wäre, sind die Ärzte hellhörig geworden. Von da ab stand in der nephrologischen Ambulanz den jugendlichen Mädchen eine Gynäkologin als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Als ich 20 Jahre alt war mussten bei mir jedoch sowohl die Gebärmutter als auch beide Eierstöcke entfernt werden.
Nach den 9 Jahren mit meiner 3. Niere kam ich 1988 wieder an die Dialyse. Insgesamt war ich 5 Jahre an der Dialyse. Während dieser Zeit habe ich 1989 mein Abitur gemacht. Ich fand eine Ausbildungsstelle zur Verwaltungsfachangestellten bei der Stadtverwaltung Minden. Für weitere Aufstiegsmöglichkeiten habe ich anschließend einen Verwaltungslehrgang besucht.
Meine 4. Niere funktioniert bis jetzt sehr gut! Inzwischen sind das 27 Jahre.
Während dieser Weiterbildung erhielt ich am 15. September 1993 meine 4. Niere. Obwohl ich 3 Monate ausfiel (Krankenhaus und Reha auf dem Ederhof), schaffte ich trotzdem einen guten Abschluss.
Da ich gerade gut im Lernrhythmus und nicht mehr dialysepflichtig war, schloss ich noch einen weiteren Verwaltungslehrgang an. Ich habe heute die Qualifikation entsprechend des gehobenen Dienstes. Bei der Stadt Minden arbeite ich noch heute.
Übrigens: meine 4. Niere funktioniert bis jetzt sehr gut! Inzwischen sind das 27 Jahre. Ich hätte nie gedacht, dass es mir einmal körperlich so gut gehen und ich ein „normales“ Leben führen kann. Manchmal vergesse ich sogar, dass ich krank bin. Das alles habe ich meiner/meinem unbekannten Spenderin/Spender zu verdanken. Die Ärzte sagten mir seinerzeit, es sei eine „Full-House-Niere“.
Jeder körperliche Schmerz ist ebenfalls ein seelischer Schmerz.
Seit Anfang 2020 (noch vor Corona) meldet sich allerdings meine Seele verstärkt zu Wort. Ich durcherlebe immer wieder die Ereignisse, die insbesondere mit meiner 2. Niere (Lebendspende meines Vaters) passiert sind. Meine größte Angst ist, auch diese 4. Niere wieder zu verlieren. Dann würde das ganze Prozedere wieder von vorne losgehen: das Leben ist abhängig von einer Maschine, starke Einschränkungen im Essen und Trinken, etc. Ferner kommen Erinnerungen an meine Jugendzeit wieder hoch, denn diese Zeit war sehr geprägt von menschlichen Enttäuschungen. Wenn man zum Beispiel mit 16 Jahren aussieht wie 12 Jahre, dann wollen die „gesunden“ Mädchen einfach nichts mit einem zu tun haben. Das hat mich seinerzeit sehr gekränkt.
Menschliche Enttäuschungen im Zusammenhang mit meiner Erkrankung erlebe ich selbst heute noch, z. B. im Berufsleben. Aufgrund meiner psychischen Probleme bin ich nun seit einem Jahr arbeitsunfähig.
Ich habe mir psychotherapeutische Hilfe gesucht und versuche, meinen seelischen Schmerz zu verarbeiten. Ich denke, allmählich geht es bergauf.
Es ist sehr gut, dass die Medizin heute erkannt hat, nicht nur die Krankheit des Kindes zu behandeln, sondern auch seine Seele. Denn jeder körperliche Schmerz ist ebenfalls ein seelischer Schmerz. Eine Begleitung durch Psychotherapie hilft den Kindern, schon frühzeitig ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Dies ist umso wichtiger beim Thema „Tod“, mit dem chronisch kranke Kinder sehr oft konfrontiert werden. Zumindest ist es mir so ergangen. Wegen der dünnen Schrankwände auf der Station 64b konnte ich eines Nachts „mitanhören“, wie Carola im Nachbarzimmer verstarb. Zudem haben die meisten meiner kleinen kranken Freunde das Erwachsenenalter nicht erreicht.
Als ich Kind war gab es diese Erkenntnisse noch nicht. Aus diesem Grund bin ich im Alter von 52 Jahren dabei, die Erlebnisse aus meiner Kindheit und Jugendzeit aufzuarbeiten. Meine Geschichte erzählen gehört dazu.
Ich kann an dieser Stelle natürlich nur die Erlebnisse aus meiner Sicht schildern. Wie es meinen Eltern seinerzeit erging und welche Gefühlsachterbahn sie durchlebt haben, ist sicherlich eine eigene Geschichte wert.
Eine kleine Anekdote zu den Osterbasaren in den 1980er Jahren
Zum Schluss und passend zur Osterzeit muss ich an dieser Stelle die legendären Osterbasare erwähnen, die Anfang/Mitte der 1980er Jahre im Eingangsbereich der Kinderklinik stattgefunden haben. Die Eltern der nierenkranken Kinder organisierten die Basare mit viel Engagement und Fleiß. Sie fanden sowohl bei der Belegschaft als auch bei den Besuchern großen Anklang. Selbst die Krankenschwestern aus dem Bettenhaus kamen herüber, um sich Kuchen zu kaufen. Die großen Erfolge der Basare machten manch eine Anstrengung der Organisatoren wieder wett. Der Erlös kam dem Elternverein zugute. Meine Eltern, hauptsächlich meine Mutter, gehörten ebenfalls zu den Organisatoren. Wenn das Gespräch auf die Osterbasare kommt, erscheint ein Lächeln auf ihren Gesichtern.