Eine neue Niere für Bettina

Vor 50 Jahren: Deutschland-Premiere an der Medizinischen Hochschule Hannover / Seitdem 800 Nierentransplantationen bei Kindern und Jugendlichen an der MHH

MHH Archiv/HAZ 17.04.00

1970 – ein Jahr des Aufbruchs für die Transplantationsmedizin in Deutschland. Die Transplantations-Pioniere an der MHH standen vor schweren Entscheidungen.  Sollte das noch recht junge Verfahren der Organtransplantation nicht nur Erwachsenen, sondern auch Kindern und Jugendlichen zu Gute kommen?

Bettina S. war Zeit ihres Lebens krank gewesen; die 13jährige Hannoveranerin war mit sogenannten Schrumpfnieren geboren worden. Das bedeutete: ständige Krankenhausaufenthalte und schließlich, als die Nieren endgültig versagten, die fortwährende Abhängigkeit von der lebensrettenden Dialyse, die ihren Körper von Giftstoffen befreite. Das komplette Nierenversagen hatte zudem den Blutdruck extrem ansteigen lassen. Die krankmachenden Nieren mussten entfernt werden.

Die Dialyse bestimmte Bettinas Leben. An drei Tagen pro Woche wurde ihr Blut gereinigt. In der restlichen Zeit erholte sich ihr Körper von den Strapazen der Blutwäsche. Bettina konnte nicht mehr zur Schule gehen.  Zudem bereitete ihr „Shunt“ immer wieder Probleme.  Die speziell angelegte Fistel zwischen Arterie und Vene, an der die Dialysemaschine angeschlossen wurde, drohte sich zu verschließen.  Bettina wurde immer schwächer, verlor ihren Lebensmut. Vor allem die Abhängigkeit von der Dialyse, so erinnerte sie sich später, setzte ihr schwer zu. Ihre Eltern und ihre Ärzte waren besorgt um ihr Leben.

 

Transplantation war medizinisches Neuland

1970 war die Nierentransplantation noch medizinisches Neuland. Gerade einmal 20 Jahre war es her, dass in den USA die erste Übertragung einer Niere zwischen eineiigen erwachsenen Zwillingen gelungen war. Inzwischen war die Operation verbessert und von mehreren Kliniken weltweit eingeführt worden.  Auch Organe von hirntoten Spendern standen zur Verfügung. Um die Funktion des für den Körper fremden Organs zu sichern, musste allerdings die Immunabwehr des Organempfängers unterdrückt werden, und das  Zeit seines Lebens. Dafür standen immunsuppressive Substanzen (z.B. Cortison, Azathioprin) zur Verfügung, die sich in der klinischen Prüfung bewährt hatten.  

An der 1963 gegründeten Medizinischen Hochschule Hannover waren die Bedingungen für die Transplantationsmedizin günstig. 1969 war die Klinik für Abdominal- und Transplantationschirurgie unter Leitung von Professor Dr. Rudolf Pichlmayr gegründet worden. Ein Jahr zuvor war er von der Ludwigs-Maximilians-Universität München an die MHH berufen worden und brachte umfangreiche Erfahrungen aus wissenschaftlichen und klinischen Arbeiten zur Organtransplantation mit.

Die erste Nierentransplantation bei einem Erwachsenen an der MHH fand bereits 1968  statt. Sie war kein Erfolg; die Niere wurde bald nach der Transplantation abgestoßen. „Das große Problem der ersten Jahre war die extreme Gefährdung der Patienten durch die damals übliche Begleittherapie. Es galt das Konzept, Abstoßungsreaktionen durch möglichst hohe Immunsuppression zu verhindern“, erinnerte sich der 1997 verstorbene Prof. Pichlmayr in einem Zeitungsbericht im Jahr 1991. Später – in den achtziger Jahren – stieg man auf das neue Medikament Ciclosporin und Kombinationstherapien um, die einen besseren Ausgleich des Balanceakts zwischen ausreichender Immunsuppression und Infektionsrisiko erlaubten. Doch 1970 standen die Ärzte vor der Frage: Ist die Nierentransplantation ein Behandlungsverfahren, das man auch bei Kindern wagen sollte?

Als es Bettina immer schlechter ging und sie die Strapazen der Dialyse nicht länger ertragen wollte, entschlossen sich die Kinderärzte und Chirurgen gemeinsam mit der Familie zur Transplantation eines fremden Spenderorgans. „Eine andere Chance gab es für unsere Tochter nicht“, sagte damals Bettinas Mutter. Dann begann die Zeit des Wartens. Bettina erinnerte sich später, dass sie erstaunlicherweise keine Angst vor dem Eingriff verspürte. Mit dem Leben an der Dialyse hatte sie abgeschlossen.

Anfang Dezember 1970 hatte das Warten ein Ende. In einer süddeutschen Stadt war ein junger Mann tödlich verunglückt; seine Niere „passte“ und wurde von seinen Angehörigen zur Transplantation freigegeben.  Bettina überstand den Eingriff gut. Wegen der immunsuppressiven Medikamente hatte sie ein hohes Infektionsrisiko und musste vier Wochen in Quarantäne verbringen. Ihre Familie bekam sie nur durch eine Scheibe zu Gesicht. Vor allem ein Gedanke beschäftigte sie: Würde das neue Organ tatsächlich funktionieren? Welche Erlösung, als der Urin wieder floss!

 

Bessere Entwicklungschancen, höhere Lebensqualität

Das Jahr 1970 hat Bettinas Leben grundlegend verändert. Sie wuchs zu einer jungen Frau heran und fand eine Lehrstelle. Dies war anfänglich nicht einfach. Wenn sie von ihrer medizinischen Vorgeschichte erzählte, blieben Angebote leider meist aus, womöglich aus Angst vor krankheitsbedingten Ausfällen oder häufigen Arztbesuchen. Die langjährige Medikamenteneinnahme verschlechterte ihr Seh- und Hörvermögen, so dass sie ihren Beruf aufgeben musste und Frührentnerin und Hausfrau wurde. Doch die Niere hielt fast 50 Jahre. Seit drei Jahren ist Bettina S. – sie ist mittlerweile 64 Jahre alt – wieder an der Dialyse.

Nach dieser ersten erfolgreichen Pioniertat folgten rasch weitere junge Patienten und Patientinnen, mit ebenfalls guten Ergebnissen. Die Nierentransplantation etablierte sich als bevorzugte Behandlung für das chronische Nierenversagen. Rund 800 Kinder und Jugendliche konnten in den folgenden 50 Jahren von einer Erweiterung des Transplantationsprogramms an der MHH profitieren. Kliniken in Deutschland und im Ausland zogen nach.

„Die Kinderärzte und Chirurgen haben bald erlebt, dass Kinder und Jugendliche durch die Transplantation eine viel höhere Lebensqualität als an der Dialyse hatten“, sagt Prof. Dieter Haffner, heute Direktor der Klinik für Nieren-, Leber-, und Stoffwechselerkrankungen. „Die Kinder weisen nach der Transplantation ein deutlich besseres Wachstum und kognitive Leistungsfähigkeit auf, was sich insbesondere beim Lernen bemerkbar macht und haben damit eine Chance sich normal zu entwickeln.“ Deshalb werden Kinder bei der Vergabe von Spendernieren Verstorbener durch Eurotransplant bevorzugt.  Mittlerweile stammen die Organe oft von den Eltern: Durch die Spende einer Niere ersparen sie ihren Kindern Wartezeit und ermöglichen ihnen bessere Lebenschancen.

 

Annette Tuffs / Jill Kaltenborn