Gallengangatresie
In den ersten Tagen nach der Geburt hat fast jedes zweite Neugeborene eine mehr oder weniger gelbliche Hautfarbe. Diese Gelbfärbung (Ikterus) der Haut, die gelegentlich auch auf der Bindehaut den Augen auftritt, bildet sich normalerweise innerhalb von zwei Wochen zurück. Man spricht dann von einer „vorübergehenden (passageren) Gelbsucht“ des Neugeborenen (Ikterus neonatorum). In Ausnahmefällen kann diese Gelbsucht aber auch das erste Symptom für eine schwerwiegende Erkrankung sein, sodass rechtzeitig mit einer weiterführenden Diagnostik begonnen werden muss. Dies ist bei der Verdachtsdiagnose "Gallengangatresie" besonders wichtig, weil diese eine der wenigen Lebererkrankungen ist, bei der die Chancen auf einen günstigen Krankheitsverlauf von der rechtzeitigen Diagnose und der damit verbundenen Operation abhängen. Allerdings ist das Problem der Gallengangatresie vielschichtig. Zum einen ist die Erkrankung sehr selten, da sie nur bei einem von ca. 18.000 Neugeborenen auftritt. In Deutschland rechnen wir daher mit ca. 35 bis 40 Fällen pro Jahr. Da die meisten dieser Kinder früher oder später eine Lebertransplantation benötigen, stellt die Gallengangatresie heute die häufigste Ursache für diesen im Kindesalter besonders kritischen Eingriff dar.
Über die Entstehung der Gallengangatresie
Erste Berichte über Neugeborene mit Gallengangatresie stammen bereits aus dem 19. Jahrhundert. Damals verstarben alle Kinder binnen 2 Jahren. Zum Glück ist das heute anders, obwohl wir immer noch nicht wissen, wann und wodurch die Gallengangatresie tatsächlich ausgelöst wird. Bis etwa 1970 ging man davon aus, dass es sich um eine angeborene Erkrankung handelt, die schon im Mutterleib entsteht. Heute weiß man, dass eine Entzündung aller Gallenwege zu einer rasch fortschreitenden Zerstörung der ganzen Leber führt. Leider wissen wir bisher nicht, welcher Erreger diese Entzündung auslöst und welche Immunreaktion des Körpers den Krankheitsverlauf bestimmt. Bemerkenswert ist, dass es diese Erkrankung ausschließlich beim Neugeborenen auftritt. Somit können wir nur warten, bis die klinische Forschung und die Grundlagenforschung, an der unser Zentrum führend beteiligt ist, weitere Erkenntnisse liefert. Erst dann werden wir in der Lage sein, die Ursache dieser Erkrankung zu behandeln und die Gallengangatresie in Zukunft vielleicht sogar verhindern können.
Eine große Herausforderung ist die rechtzeitige Diagnose der Gallengangatresie. Denn unter den fast 50% der Neugeborenen, die während der ersten Lebenstage eine harmlose passagere Gelbsucht entwickeln, müssen die tatsächlich kranken Patienten möglichst früh erkannt werden. Aus diesem Grund sollte jedes Neugeborene, bei dem die Gelbsucht länger als 14 Tage besteht, eine genauere Diagnostik erhalten. Hierbei steht die genaue Untersuchung des „Bilirubins“ im Blut an erster Stelle steht. Bilirubin ist ein gelbes Abbauprodukt roten Blutkörperchen und damit ein Farbstoff der Galle. Rote Blutkörperchen leben etwa 120 Tage, danach werden sie Leber und Milz abgebaut. Hiernach fällt zunächst das sogenannte „indirekte“ Bilirubin an, was im Körper weiter zur Leber transportiert wird. Dort wird es in das sogenannte „direkte“ Bilirubin umgewandelt, welches dann über die Galle in den Darm ausgeschieden wird. Bei der Gallengangatresie ist daher typischerweise das direkte Bilirubin im Blut des Kindes erhöht. Wenn Bilirubin-Werte nicht im altersentsprechenden Normalbereich liegen, sind weiterführende Untersuchungen bei einem entsprechend spezialisierten Kinderarzt (Pädiatrischer Gastroenterologe) und später in einem pädiatrischen Leberzentrum erforderlich. Zu diesen Zentren gehört auch das Kinderchirurgische Zentrum der MHH. Hier werden dann umfangreiche Untersuchungen durchgeführt, worunter auch eine Untersuchung der Gallenwege (Endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie bzw. ERCP*) fällt. Sollte sich die Diagnose „Gallengangatresie“ bestätigen, muss eine offene Operation durchgeführt werden.
Seit dem Jahr 2017 gibt es in Niedersachsen ein Früherkennungsprogramm, um Patienten mit Gallengangatresie so rasch wie möglich zu entdecken. Denn außer der oben erwähnten Gelbverfärbung von Haut und Skleren ist der Stuhlgang des Kindes entfärbt (weißlich oder grau). Um diese Farbveränderung besser erkennen zu können, liegt jedem gelben Vorsorgeheft (wird für jedes Neugeborene angelegt) eine Stuhlfarbenkarte bei. Darauf ist eine Farbskala, mit der die Farbe des Stuhls in der Windel verglichen werden kann. Zusätzlich kann diese Farbvergleichsskala mit einer App verwendet werden, die sowohl für Android, als auch im Apple-Store unter dem Titel „Lebercheck bei Babys“ heruntergeladen werden kann. Bei einem auffälligen Farbmuster sollte dann umgehend der Kinderarzt aufgesucht werden, der dann darüber entscheidet, ob und wenn ja welche weiteren diagnostischen Maßnahmen notwendig sind. Diese Initiative wurde wurde von der MHH gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse begründet und wird bis auf weiteres fortgesetzt.
Bis in die 50er Jahre hinein galt die Gallengangatresie als unheilbar. Erstmals gelang es 1959 dem japanischen Kinderchirurgen Morio Kasai, eine Operationstechnik zu entwickeln, mit die verschlossenen Gallenwege ersetzen werden konnten. Auf diese Weise überlebten die ersten Patienten die Erkrankung. Heute gibt es junge Frauen mit der Diagnose „Gallengangatresie“, die durch diese Operation geheilt wurden und bereits selber gesunde Kinder haben. Die von Kasai entwickelte Operationstechnik ist im Laufe der Jahre technisch weiterentwickelt worden, ohne jedoch das Prinzip der Operation zu verlassen. Ziel des Eingriffs ist es, die erkrankten und verschlossenen Gallenwege zu entfernen, die sich außerhalb der Leber befinden. Anschließend wird die Leberpforte** so präpariert, dass möglichst viele der zarten Gallenwege angeschnitten und eröffnet werden, die an dieser Stelle die Leber verlassen. Diese sind so klein und zart, dass sie nur unter einem Mikroskop zu erkennen sind. Wenn diese kleinen Gallenwege von der Erkrankung nicht zerstört sind, besteht die Chance, das sich die von der Leber gebildete Galle darüber in den Darm entleeren kann. Um diese "abtropfende" Galle aufzufangen, wird nun eine Darmschlinge verwendet, die mit ihrem offenen Ende wie ein Trichter in die Leberpforte eingenäht wird und die Galle aufnimmt. Diese Darmschlinge wird nach 50cm mit einer zweiten Darmschlinge verbunden, welche die Verdauungssekrete und Nahrung weiter in Richtung Dickdarm transportiert.
Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei der Gallengangatresie um einen entzündlichen Prozess handelt, der durch die Operation selbst nicht beeinflusst wird. Diese schafft lediglich die Voraussetzung für einen freien Abfluss der Galle, wenn dieser wieder einsetzt. Unterstützen kann man diesen Prozess durch die Gabe entzündungshemmender Medikamente, über die wir Sie bereits vor einer geplanten Operation ausführlich aufklären.
Alle Kinder werden in unserem Zentrum nach o.g. Operationsprinzip behandelt. Nach der Kasai-Operation benötigen sie eine unterschiedlich lange Nachbehandlung. Schon während des operativen Eingriffs wird mit der Gabe von Antibiotika begonnen, die auch später noch fortgestzt wird. Sie sollen verhindern, dass es zu einer Infektion der Gallenwege bzw. der Leber kommt. Zusätzlich werden Präparate zur Unterstützung des Galleflusses gegeben (Ursodeoxycholsäure) und fehlende Nährstoffe (vor allem die Vitamine A, E, K und D) werden ersetzt. Damit die Kinder optimal gedeihen, ist es wegen der Störung der Fettverdauung oft notwendig, die Nahrung mit Spezialfetten (medium chain triglycerides bzw. „MCT-Fette“) anzureichern. Einige dieser Medikamente und Ernährungsformen können später abgesetzt werden und sind nicht mehr notwendig, wenn sich der Gallefluss normalisiert, die Kinder sich gut entwickeln und kontinuierlich an Gewicht zunehmen.
Prognose
Über 90% der Patienten, bei denen die Gallengangatresie rechtzeitig entdeckt wurde (innerhalb der ersten 60 Lebenstage) und die in einem pädiatrischen Leberzentrum behandelt wurden, überleben die kommenden 10 Jahre. Etwa die Hälfte von ihnen kann dabei viele Jahre mit der eigenen Leber weiterleben, während die anderen Patienten früher oder später eine Lebertransplantation benötigen. Weil es sich bei der Gallengangatresie aber um eine Erkrankung handelt, die mit der Operation nicht zwingend geheilt wird, kann bei den Patienten der fortschreitende bindegewebige Umbau und Verhärtung (Fibrosierung) der Leber fortschreiten. Dieser Prozess verläuft individuell sehr unterschiedlich und gerade zu Beginn der Erkrankung kann man keine zuverlässige Prognose stellen.
Auf der anderen Seite wissen wir heute, dass Kinder, die rechtzeitig nach Kasai operiert wurden, eine realistische Chance haben, lange mit ihrer eigenen Leber zu überleben. Als einziger verlässlicher prognostischer Marker wird der Bilirubinwert angesehen. Wenn dieser im Alter von 6 Monaten im Normbereich ist, dann sind die Chancen sehr hoch, dass der Patient ein im Wesentlichen unbeeinträchtigtes Leben mit einer sehr guten Langzeitprognose führen kann. Diese Überlebensquote hängt unter anderem von der Erfahrung des jeweiligen Zentrums ab. Heute darf man davon ausgehen, dass in den wenigen großen Kinderzentren mit hepatologischem Schwerpunkt gut 50% der Kinder mit Gallengangatresie eine mittel- und langfristig gute Chance haben, mit der eigenen Leber weiterzuleben.