Von Zuckern und dem Stillstand in der Transplantationsmedizin
In der „Adventsvorlesung 2021“ werden neuen Strategien gegen den Organmangel und den Organverlust vorgestellt und diskutiert.
Auch in diesem Jahr lud das Transplantationszentrum alle Mitarbeiter*innen der MHH und externe Gäste zur „Adventsvorlesung“ ein. Wie 2020, als der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil zur Corona-Pandemie sprach, war das Publikum überwiegend online zugeschaltet.
Am 15. Dezember 2021 stand die Frage im Mittelpunkt: Welche Strategien hat die Transplantationsmedizin, um die prekäre Situation eines anhaltenden Organmangels und den relativ hohen Verlust transplantierter Organe durch Abstoßungsreaktionen zu überwinden? Erleben wir gerade einen andauernden Stillstand oder kommt endlich ein Aufbruch?
Eine weihnachtlich und wissenschaftlich gestimmte Antwort gab Professor Hermann Haller, Direktor der MHH-Klinik für Nephrologie, mit seinem Vortrag „The Icing on the Cake – Der Zucker in der Transplantationsmedizin“. Jahrzehntelang wurde der „Zuckerguß“ der Proteinmoleküle unterschätzt. Heute weiß man, dass es nicht nur Proteine (Antigene) sind, die für die Individualität der Körperzellen sorgen, sondern auch Zucker, die den Proteinen auf ihrem Weg durch die Zelle angeheftet werden. Sie bestimmen mit, wie fremd sich Spender- und Empfängerzellen sind – eine Erkenntnis, die Einfluss auf ein besseres Spender-Empfänger-Matching haben dürfte, aber bislang noch keine klinischen Konsequenzen hat.
Sehr real und zum Teil schon in der klinischen Praxis angekommen ist dagegen die Maschinenperfusion. Dabei werden die Spenderorgane unmittelbar nach der Entnahme und während des Transports mit Blut oder einer physiologischen Konservierungslösung durchspült. Für die Transplantation von Herzen und Lungen ist dies an der MHH Standard, allerdings ohne entsprechende Finanzierung durch die Krankenkassen. Professor Axel Haverich, Leiter des Transplantationszentrums der MHH, wies auf die Vorteile der Perfusion hin: Im sogenannte Organ-Care-System können die fixen Zeitvorgaben für die Transportzeit von Herz und Lungen verlängert werden. So können Organe auch aus weit entfernten Ländern geholt und transplantiert werden. Operationen werden planbarer und damit sicherer.
Die Perfusion bei Leber- und Nierentransplantation steht dagegen in Deutschland noch am Anfang. Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Dr. Günther Matheis, beklagte die langsame Umsetzung innovativer Verfahren, auch aufgrund des mangelnden Mitspracherechts der Ärzteschaft im Gemeinsamen Bundesausschuss, der über die Finanzierung neuer Verfahren entscheidet. Professor Frank Lammert berichtete, dass die MHH an einer Multizenterstudie zur Maschinenperfusion bei der Lebertransplantation teilnimmt. Die Experten waren sich einig, dass Deutschland im internationalen Vergleich bei der Maschinenperfusion Entwicklungsland ist. Studien hätten gezeigt, dass Organe mit der Perfusion gerettet oder qualitativ verbessert werden können.
Unstrittig war in der Diskussionsrunde auch, dass die Zahl der Transplantationen dringend gesteigert werden muss. In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland jeweils circa 2.800 Organe gespendet. Im Vergleich zu den anderen Eurotransplant-Ländern liegt Deutschland mit 10,4 Organspendern pro Million Einwohner abgeschlagen zurück.
Zwei Gesetzesvorhaben wurden 2019 und 2020 verabschiedet, die Abhilfe schaffen sollen, deren komplette Umsetzung aber bislang aussteht. So sind noch längst nicht alle Transplantationsbeauftragten, die in Krankenhäusern mit Intensivstationen für die Identifizierung der Organspender zuständig sind, eingesetzt oder ausreichend für ihre Aufgaben freigestellt. Ebenso steht das nationale Register aus, das die Entscheidung zur Organspende registriert, sowie zahlreiche Aufklärungsmaßnahmen. Die Expertenrunde in der MHH war sich einig, dass mit dem Scheitern der Widerspruchslösung Anfang 2020 im Bundestag eine große Chance verpasst wurde.
Optimistischer wurde dagegen eine Initiative zur Steigerung der Lebendspende beurteilt. Das Ehepaar Elke und Patrick Kaul berichtete über ihre Erfahrungen. Zu lange habe es gedauert, bis die Dialyseärzt*innen die Lebendspende als Alternative diskutiert hätten. Der eigene Informationsbedarf sei dann sehr groß gewesen und das Verfahren zum Teil langwierig und beschwerlich, aber die Mühen hätten sich gelohnt. Beklagt wurde allerdings, dass es schwierig gewesen sei, sowohl für den Empfänger als auch die Spenderin die erforderlichen Reha-Maßnahmen von der Krankenkasse finanziert zu bekommen.
Auch die Zahlen der Nierentransplantationen nach Lebendspende haben in den vergangenen Jahren abgenommen. Grund ist unter anderem eine Rechtsunsicherheit und die fehlende Zuständigkeit der Bundesärztekammer. Der Deutsche Ärztetag habe gerade beschlossen, dies zu ändern, sagte Dr. Matheis. Eine entsprechende Gesetzesänderung sei geplant.
Schauen Sie sich die Aufzeichnung der Veranstaltung an!
Adventsvorlesung: The Icing on the Cake – Der Zucker in der Transplantationsmedizin
Prof. Hermann Haller, Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen
Podiumsdiskussion: Transplantationsmedizin in Deutschland: Stillstand oder Aufbruch
Dr. Annette Tuffs, Tx-Management, Transplantationszentrum & Moderation
Dr. Günther Matheis, Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz,Vize-Präsident der Bundesärztekammer
Elke und Patrick Kaul, Patientenbeirat MHH-Transplantationszentrum
Prof. Frank Lammert, Vizepräsident und Vorstandsmitglied, Ressort Krankenversorgung
Prof. Axel Haverich, Leiter des Transplantationszentrums