Laufende Dissertationen
Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin
Promovendin
Nicole Lengwenus
Arbeitstitel der Dissertation
Pädiatrische Beiträge über Diphtherie und Tuberkulose in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ und der „Münchner Medizinischen Wochenschrift“ in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
Abstract
Die Pädiatrie ist eine relativ junge Disziplin, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zu einem eigenständigen wissenschaftlichen Fach entwickelte. Die Entwicklung der Impfungen gegen Tuberkulose und Diphtherie führte zu einem erheblichen Aufschwung in diesem Fach. Aber gerade diese Impfungen gaben Anlass zu Diskussionen in der Ärzteschaft. Denn es mussten erhebliche Widerstände nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Wissenschaft überwunden werden. In dieser Studie wird anhand pädiatrischer Beiträge in medizinischen Fachzeitschriften zu den Erkrankungen Diphtherie und Tuberkulose untersucht, wie sich Ärzte und Wissenschaftler austauschten und die fachöffentliche Kommunikation v. a. im Bereich der Impfungen führten. Außerdem wird überprüft, ob es Aussagen gibt, die die politische Haltung der Ärzte erkennen lassen. Denn die Vorbehalte der Impfgegner beruhten u. a. auch auf rassenhygienischem Denken.
Medizinische Journals, wie die medizinischen Wochenschriften „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ (DMW) und „Münchner Medizinische Wochenschrift“ (MMW) dienen nicht nur der ärztlichen Kommunikation innerhalb einer Fachrichtung, sondern verbreiten medizinisches Wissen interdisziplinär. Entsprechend werden die Inhalte den Lesebedürfnissen eines interdisziplinären medizinischen Fachpublikums angepasst und über den kleineren Kreis der direkt an der Produktion des Wissens Beteiligten, des „Denkkollektives“ (Ludwik Fleck) im engeren Sinne, hinaus vermittelt und damit das medizinische Wissen in einem breiteren Fachkreis diskutierbar und rezipierbar. Die beiden Wochenschriften DMW und MMW eignen sich insofern insbesondere als Untersuchungsgegenstand, da sie das ganze Spektrum der Medizin abbilden. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, da sich im untersuchten Zeitraum innerhalb der Berichterstattung eine dynamische Entwicklung erkennen lässt, von der Erforschung der Therapie über die Entwicklung der Impfung bis zur Diskussion über eine Massenimpfung.
1913 entwickelte Emil von Behring das Diphtherieschutzmittel Toxin-Antitoxin zur aktiven Immunisierung und Schutzimpfung gegen Diphtherie. Den ersten echten Erfolg mit der Immunisierung gegen Tuberkulose hatten 1906 Albert Calmette und Camille Guérin mit ihrem BCG-Impfstoff. Sowohl zur Diphtherie wie auch zur Tuberkulose gab es im Untersuchungszeitraum zahlreiche Beiträge in der DMW und MMW, wohl dadurch bedingt, dass es zwar schon eine Therapie und Impfung gab, diese aber keinen hundertprozentigen Erfolg garantierten. Aus diesem Grund bestand ein interdisziplinäres Interesse an der Verbesserung der Heilungschancen und der Prophylaxe sowie ein Bedarf an einer fachöffentlichen Kommunikation über Forschungen und Therapieversuche hinsichtlich der Erkrankungen Diphtherie und Tuberkulose.
Mit Beginn des Nationalsozialismus änderte sich die kinderärztliche Versorgung in Deutschland grundlegend. Mehr als die Hälfte der Kinderärzte waren jüdischer Abstammung. Viele von ihnen hatten sich mit der Prävention, v. a. bei Tuberkulose und Diphtherie, beschäftigt. Ab 1933 verloren sie vielfach ihre Stellen in Forschung und Lehre und später ihre Approbation, viele emigrierten. Das Feld der Akteure, das „Denkkollektiv“ änderte sich insofern ab 1933 erheblich, ebenso wie das fachöffentliche breitere Kommunikationsnetzwerk. Untersucht wird daher, ob sich in der Berichterstattung der beiden Erkrankungen in den medizinischen Wochenschriften ebenfalls Änderungen feststellen lassen.
Medizinische Versuche an Kindern zur Erforschung von Krankheitsverlauf, Therapien und Impfprophylaxe fanden nicht nur im Nationalsozialismus, sondern bereits während der Weimarer Republik statt. Zu fragen ist vor diesem Hintergrund nach fachöffentlichem Austausch über Menschenversuche, insbesondere an Kindern, über Forschungsethik, über Menschenbilder der Mediziner von Kindern als Patienten sowie dem Umgang mit erkrankten Kindern im Untersuchungszeitraum.