Hintergrund
Es ist weiter verbreitet, als man denkt. Menschen mit der angeborenen Gabe der Synästhesie hören oft nicht nur mit den Ohren. Andere Sinne als diejenigen, die man erwartet, beteiligen sich an der Wahrnehmung. Anders als, wenn man sagt „Das Auge isst mit“, kann z.B. bei einer gustatorischen Synästhesie der Geschmack allein auch bei verbunden Augen das Sehen von Farben erzeugen. Und auch anders als die Erwartung von Gelb beim Geschmack einer Zitrone mischen sich bei der Synästhesie überwiegend Farben ganz unmetaphorisch in das Erleben. Die Kodierungen bleiben meist verlässlich konsistent.
Wer etwas sagen möchte und bereits vor dem Einfall eines Wortes dessen Farbe sieht, hat eine sehr interessante Form des Bewusstseins. Diese Fähigkeit inspiriert zum Nachdenken darüber, wie es das Gehirn permanent schafft, all seine Windungen in ein gesamtes Erleben mit einzubeziehen (Hörzentrum, Sehzentrum, Gefühle usw). So schnell wie die Verbindungen der Sinne bei der synästhetischen Wahrnehmung wären auch Intuition, Bauchgefühl und Spontanität zu erwarten.
Wenigstens 5 % der Menschen sind mit der Synästhesie begabt, einer Spielart der Evolution. Verbindungen, „binding“, sind zentrale Funktionen des Gehirns zur Erzeugung von Bewußtsein. Wo bestimmte Bereiche stärker verbunden sind, ergibt sich ein spannendes Forschungsfeld dafür, wie Bewußtsein funktioniert. Wie macht es das Gehirn, daß ich mit dem, was ich erlebe, etwas anfangen kann? Verstärkte Funktionen lassen sich messen. Z.B. die verstärkte Kopplung von Hören und Sehen, wo ein Ton eine Farbe auslöst. Synästhesie als verstärkte Verkopplung ist somit ein spannendes Paradigma in der Bewusstseinsforschung.
Übergeordnete Ziele
Drei Schwerpunkte der Arbeitsgruppe prägen deren Arbeit: Die Nutzung der Forschungsergebnisse zur besseren Erklärung von Bewusstseinsfunktionen zum einen. Zum anderen soll die Synästhesie selbst besser erklärt werden und von ihr gelernt werden können. Dabei geht es vor dem Hintergrund der selteneren Betroffenheit mit psychischen Erkrankungen bei Synästhesie auch um die Frage, was man für das Heilwesen von ihr lernen kann.
Während es sich zweifelsfrei um keine Krankheit sondern eine Variante mit vielen Vorteilen handelt, sind dennoch auch Herausforderungen mit der Synästhesie im alltäglichen Leben verbunden, insbesondere in Schule, Erziehung, Partnerschaft und medizinischen Besonderheiten wie in der Verträglichkeit psychotroper Substanzen, deren Erforschung einen dritten wesentlichen Schwerpunkt der Synästhesieforschung in Hannover darstellt.
Unter anderem anhand der Analyse von Neurotrophinen soll zur Differenzierung der Hypothesen über die Entstehung der Synästhesie beigetragen werden. Handelt es sich bei der Synästhesie um ein archaisches Phänomen im Sinne einer residualen Panästhesie wie im frühkindlichen Gehirn, bzw. ist die Synästhesie mit Erkrankungen assoziiert, die mit einer erniedrigten Synapsenbildungsrate einhergehen? Oder ist Synästhesie im Sinne eines hyperconnected brain eine vorausentwickelte Bewußtseinsvariante mit einer besonders ausgeprägten Neuroplastizität?
Publikationen:
- Gaschler-Markefski B, Szycik GR, Sinke C, Neufeld J, Schneider U, Baumgart F, Dierks O, Stiegemann U, Scheich H, Emrich HM, Zedler M. Anomalous Auditory Cortex Activations in Coloured Hearing Synaesthetes: An fMRI-Study. Seeing Perceiving. 2011;24(4):391-405. DOI
- Simner J, Rehme MK, Carmichael DA, Bastin ME, Sprooten E, McIntosh AM, Lawrie SM, Zedler M. Social responsiveness to inanimate entities: Altered white matter in a ‘social synaesthesia’. Neuropsychologia. 2016;216:282-289. DOI
- Neufeld J, Sinke C, Dillo W, Emrich HM, Szycik GR, Dima D, Bleich S, Zedler M. The neural correlates of coloured music: a functional MRI investigation of auditory-visual synaesthesia. Neuropsychologia. 2012 Jan;50(1):85-9. DOI
Mit der Vermischung von Sinneseindrücken läßt sich Manches leichter lernen. Menschen mit Synästhesie profitieren a priori von den Möglichkeiten polyvalenter Aufnahme von Gedächtnisinhalten, stoßen aber an Grenzen im pädagogisch normativen System. Explorativ werden einerseits Vorteile aus der Synästhesie für normalpädagogische Methoden und für rehabilitative Maßnahmen bei neurokognitiven Erkrankungen und dissoziativen Störungen untersucht, andererseits werden umgekehrt unter Berücksichtigung der spezifischen Besonderheiten im Umgang mit Synästhetikerinnen und Synästhetikern Routinen im Schulsystem anzupassen.
Publikationen:
- Zedler M. Das A ist rot: Von vermischten Sinnen. Eine kleine Übersicht zur Synästhesie. Neuropaed. 2014;13, 136-140. PDF
- Zedler M, Rehme MK, Synesthesia: A psychosocial approach. In: Simner J, Hubbard , editors. The Oxford Handbook of Synesthesia. Oxford University Press; 2013. Chapter 46. Available from: DOI
- Emrich HM, Schneider U, Zedler M. Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: das Leben mit verknüpften Sinnen. 2nd edition. Stuttgart: Hirzel; 2017. 142 p. Available here.
Während Synästhesie als gesunde Normvariante des qualitativen menschlichen Bewußtseins verstanden werden kann, stellt das Phänomen auch für eine besondere Resilienz gegenüber psychiatrischen Erkrankungen quasi wie eine Schutzfunktion. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, trotz Synästhesie psychiatrisch zu erkranken. Im Rahmen einer Spezialsprechstunde werden die Besonderheiten der Genese psychiatrischer Erkrankungen und der Verträglichkeit und Wirksamkeit pharmakopsychiatrischer Behandlungsmethoden evaluiert.
Publikationen:
- Nielsen J, Krüger THC, Hartmann U, Passie T, Fehr T, Zedler M. Synaesthesia and Sexuality: The influence of synaesthetic perceptions on sexual experience. Front Psychol. 2013;4:751. DOI
- Neufeld J, Roy M, Zapf A, Sinke C, Emrich HM, Prox-Vagedes V, Dillo W, Zedler M. Is synesthesia more common in patients with asperger syndrome? Hum Neurosci. 2013;7:847. DOI
Wissenschaftliche Kooperationen
- Departamento de Psicología Experimental, Facultad de Psicología, Universidad de Granada, España
- Departamento de Bellas Artes, Universidad de Granada, España
- School of Psychology University of Sussex, Brighton, UK
Gruppenmitglieder
Forschungsgruppenleitung
Dr. med. Markus Zedler
Oberarzt
Telefon: +49 511 532 3165
Titel der Doktorarbeit: Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Neuroplastizität und Synästhesie – UNSYN-Studie
Nadine.Eckardt@stud.mh-hannover.de