Professor Dr. Kai Schmidt-Ott setzt in seiner Klinik verstärkt auf Einzelzell-Sequenzierung und Bioinformatik.
Stand: 29. November 2022
Wer eine Klinikleitung übernimmt, bringt meistens etwas mit: neue Ideen, Forschungskooperationen und bewährte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das trifft auch auf Professor Dr. Kai Schmidt-Ott zu, der vor einem halben Jahr die Leitung der Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen übernommen hat. Von der Charité-Universitätsmedizin Berlin hat er Oberarzt Dr. Christian Hinze mitgenommen – und mit diesem auch das Knowhow einer Methode, die beide an der MHH weiterentwickeln wollen. Einzelzell-Sequenzierung heißt das Verfahren, mit dessen Hilfe ein Blick tief in die biologischen Abläufe einzelner Zellen möglich ist. Dazu haben die beiden Mediziner vor wenigen Wochen zwei Studien in den Fachzeitschriften Genome Medicine und Kidney International veröffentlicht, die das molekulare Muster bei akuter Schädigung menschlicher Nierenzellen aufzeigen.
Direkter Zoom in die Zelle
„Akute Nierenschädigung geht mit den unterschiedlichsten Erkrankungen einher“, sagt Professor Schmidt-Ott. Die Komplikation tritt oft bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder schweren Infektionskrankheiten auf – wie etwa COVID-19 –, aber auch nach Operationen, bei Einnahme nierenschädlicher Medikamente oder als Folge bestimmter Autoimmunerkrankungen. Das Problem für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ist, dass sie angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten im Einzelfall oft nicht wissen, welche Ursache zu der Nierenschädigung geführt hat. Auch gibt es für die Behandlung oft kein spezifisches Medikament. „Die Einzelzell-Sequenzierung ist für uns sozusagen eine Spezialkamera, mit der wir in jede Zelle direkt hineinzoomen und schauen können, was dort gerade passiert“, erklärt Dr. Hinze. Was wann genau in einer bestimmten Zelle passiert, gibt unter anderem deren Transkriptom an – die Gesamtheit aller Gene, die zu einem konkreten Zeitpunkt abgelesen und in RNA umgeschrieben werden. Mit Hilfe der Einzelzell-RNA-Sequenzierung lassen sich Tausende von Zellen so parallel und individuell analysieren. Dadurch können die Forschenden erkennen, ob die Nierenzelle richtig funktioniert, ob sie unter Stress steht oder gerade abstirbt. „Die Niere gibt quasi selbst Auskunft darüber, was mit ihr los ist“, erklärt der Nephrologe.
Ansatz für personalisierte Therapie
Und das ist wichtig, denn die Problematik einer akuten Nierenschädigung wird häufig unterschätzt. „Sie ist mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden, und Patientinnen und Patienten können bleibende Schäden davontragen bis hin zum kompletten Verlust der Nierenfunktion“, betont Professor Schmidt-Ott. Auslöser ist häufig eine unzureichende Blutversorgung der Niere, so dass die Zellen dort nicht mehr genügend Sauerstoff und Nährstoffe erhalten. Sie gehen in eine Art Alarmmodus über und produzieren Signalstoffe, die im umliegenden Gewebe zu Entzündungs- und Vernarbungsprozessen führen. In ihren Studien haben die Forschenden Zellen aus Gewebeproben und Urin von über 40 Patientinnen und Patienten untersucht und die molekularen Muster von mehr als 140.000 Zellen computergestützt analysiert und miteinander verglichen. „Wir konnten bestimmte molekulare Muster identifizieren, die bei allen Betroffenen mit akuter Nierenschädigung individuell in unterschiedlicher Häufigkeit vorkamen“, sagt Dr. Hinze. „Diese Befunde könnten künftig dabei helfen, Risiken für schwere Krankheitsverläufe besser abzuschätzen und bieten vielversprechende Ansätze für künftige Diagnoseverfahren und personalisierte Therapien.“
Kompetenz in Bioinformatik gefragt
Doch dafür braucht es nicht nur medizinisches Fachwissen, sondern Informatik-Expertise. „Die Analyse liefert uns eine Flut von Daten, die erst etwas nützen, wenn sie ausgewertet und eingeordnet sind“, betont Professor Schmidt-Ott. Und weil die Medizin zunehmend vor dem Problem steht, mit immer aufwändigeren Methoden immer mehr Daten zu generieren, ist nach Ansicht des Klinikleiters mehr Kompetenz in Sachen Bioinformatik bei den forschenden Ärztinnen und Ärzten gefragt. Über mangelndes Interesse seiner MHH-Kolleginnen und -Kollegen können er und sein Oberarzt, der auch Diplommathematiker ist, nicht klagen. „Wir bekommen viel positives Feedback und haben mit dem Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik weitere Fachleute an unserer Seite, mit denen wir uns austauschen können.“
Autorin: Kirsten Pötzke