Aus der MHH

Gewaltopfer: Vertrauliche Beweissicherung wird zur Kassenleistung

Land, GKV und MHH schließen Vertrag zur Kostenübernahme beim Netzwerk ProBeweis.

Professorin Dr. Anette S. Debertin, Minister Dr. Andreas Philippi, Professor Dr. Michael Manns und Hanno Kummer (von links) stehen nebeneinander.

Der Vertrag ist unterzeichnet: Professorin Dr. Anette S. Debertin, Minister Dr. Andreas Philippi, Professor Dr. Michael Manns und Hanno Kummer (von links). Copyright: Karin Kaiser/MHH

Bei häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen besteht für die Betroffenen eine hohe Hemmschwelle, ihre Rechte wahrzunehmen und direkt bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. Viele Gewaltopfer können sich erst mit zeitlichem Abstand zur Tat durchringen, Strafanzeige zu stellen. Etwaige Spuren oder Befunde, die für die strafrechtlichen Ermittlungen von Relevanz sind, können dann oft nicht mehr gesichert und dokumentiert werden. Seit 2012 bietet daher das an der MHH verankerte Netzwerk ProBeweis Betroffenen von häuslicher oder sexueller Gewalt eine verfahrensunabhängige und vertrauliche Spurensicherung an. Mittlerweile verfügt Niedersachsen mit 45 Untersuchungsstellen an 39 Partnerkliniken über ein flächendeckendes Beweissicherungsangebot für Gewaltopfer.

Hemmungen und Scham bei der Hilfesuche abbauen

Mit der heutigen (30.08.2023) Unterzeichnung hat Niedersachsen als erstes Bundesland die Finanzierung dieser rechtsmedizinischen Leistungen mit den Gesetzlichen Krankenkassen final geregelt und in einen Vertrag überführt. Damit wird die forensische Spurensicherung durch das Netzwerk ProBeweis ab 1. Januar 2024 eine kassenfinanzierte Leistung nach Sozialgesetzbuch V. Zudem wird die landesseitige finanzielle Unterstützung vom Netzwerk ProBeweis ebenfalls ab 1. Januar 2024 deutlich verbessert. Seit 2012 konnten bereits 1.707 vertrauliche Spurensicherungen vorgenommen werden. Bei etwa jedem zweiten Fall geht es um Gewalt im häuslichen Kontext. Etwa fünf Prozent der Untersuchten sind Männer. Etwa 15 bis 20 Prozent führten zu Anzeigen – darunter auch zu rechtskräftigen Verurteilungen. „Es ist ein großes Anliegen der MHH, dass keine Versorgungslücke für die Betroffenen eintritt“, betonte MHH-Präsident Professor Dr. Michael Manns, „Die Zielgruppe des Netzwerks ProBeweis sind Opfer häuslicher und sexueller Gewalt, es geht darum, Hemmungen und Scham bei der Hilfesuche abzubauen.“

Niedersachsens Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, Dr. Andreas Philippi, hat den Vertrag im Beisein des MHH-Präsidenten und von Hanno Kummer, Leiter des Verbandes der Ersatzkassen (vdek) in Niedersachsen – stellvertretend für die GKV –, unterzeichnet. „Wir fördern in unserem Flächenland seit vielen Jahren das Netzwerk ProBeweis, und ich bin sehr froh darüber, dass wir die Leistungen dieses wichtigen Netzwerkes jetzt zu einer echten Kassenleistung machen“, erklärte Minister Dr. Andreas Philippi im Rahmen der Unterzeichnung. „Wir haben in Niedersachsen ein Verfahren etabliert, das auf höchsten medizinischen Standards beruht, das rechtssicher ist und gleichzeitig den psychischen und physischen Belastungen von Gewaltopfern Rechnung trägt. Dass dieses Konzept seit über zehn Jahren sehr überzeugend umgesetzt wird – bisher aus den Landesmitteln in Höhe von 310.000 Euro jährlich – ist der entscheidende Punkt bei der Einführung als gesetzliche Kassenleistung. Es ist auch Ausdruck der Qualität bei der Spuren- und Befundsicherung, dass wir diese Einigung erzielen konnten.“

Minister Philippi dankte der MHH und den Gesetzlichen Krankenkassen für die konstruktive Zusammenarbeit im Sinne der Gewaltopfer, meistens Frauen. „Die herausragende Arbeit vom Netzwerk ProBeweis hat sich weit herumgesprochen, so dass immer mehr Opfer dieses wichtige Angebot nutzen. Ich freue mich daher, dass wir die bisherige Landesförderung mit 100.000 Euro um rund ein Drittel auf 410.000 Euro im Jahr 2024 spürbar aufstocken können. Aus diesem deutlich größeren Topf kann dann auch die Beweissicherung von nicht beziehungsweise privat versicherten Opfern finanziert werden, die das Bundesgesetz leider nicht enthält.“ Zudem dankte der Minister den Gesetzlichen Krankenkassen namentlich der Allgemeinen Ortkrankenkasse (AOK), Techniker Krankenkasse (TK), BARMER, DAK-Gesundheit, Kaufmännische Krankenkasse – KKH, Handelskrankenkasse (hkk), HEK – Hanseatische Krankenkasse, BKK Landesverband Mitte, IKK classic, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) und KNAPPSCHAFT Regionaldirektion Nord.

Meilenstein im Umgang mit dem Thema häuslicher und sexueller Gewalt

Professorin Dr. Anette S. Debertin, Oberärztin am MHH-Institut für Rechtsmedizin und seit 2012 Leiterin vom Netzwerk ProBeweis, hob die langjährige Förderung durch das Sozialministerium hervor: „Wir danken dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung für die kontinuierliche Unterstützung und sehen uns in unserer Vorarbeit zur Verbesserung der Versorgung von Gewaltbetroffenen bestätigt. Die Anerkennung der vertraulichen Spurensicherung als Kassenleistung stellt einen Meilenstein im Umgang mit dem Thema häuslicher und sexueller Gewalt dar. Niedersachsen profitiert von der Verstetigung der Strukturen vom Netzwerk ProBeweis, auch zur flächendeckenden Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention.“

 „Aus voller Überzeugung leisten wir unseren Beitrag als Hilfe für Betroffene“, sagte Hanno Kummer, Leiter der vdek-Landesvertretung, stellvertretend für die GKV. „Dazu haben wir uns bei der Kostenübernahme auf ein Abrechnungsverfahren verständigt, das Vertraulichkeit garantiert: Personenbezogene Daten werden nicht an die Krankenkassen weitergeleitet. Die Kassen teilen sich die Kosten nach Marktanteil, nicht nach Inanspruchnahme durch die eigenen Versicherten.“

Die Vertragsvereinbarung zwischen den GKV, der MHH/Netzwerk ProBeweis und dem Land Niedersachsen sieht vor, dass pro behandeltem Fall beziehungsweise erfolgter Spurensicherung 421 Euro netto pauschal an das Netzwerk ProBeweis erstattet werden. Hiervon wird das Netzwerk 200 Euro netto an die jeweilige leistungserbringende Klinik aus dem Netzwerk überweisen. Bisher konnte das Netzwerk ProBeweis aus den Mitteln des Gesundheitsministeriums lediglich eine Fallpauschale von 50 Euro netto an die Kliniken auszahlen.

Für die gerichtsverwertbare Dokumentation werden die Betroffenen körperlich untersucht, nötigenfalls werden Proben entnommen. Verletzungen werden fotografiert. Alle Befunde werden manipulations- und zugriffssicher aufbewahrt und können im Falle einer Anzeige und Schweigepflichtsentbindung abgefordert und in ein Strafverfahren eingebracht werden.

Text: Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung

Weitere Informationen und Kontakt:

Web: www.probeweis.de
Instagram: https://www.instagram.com/netzwerkprobeweis
E-Mail: probeweis@mh-hannover.de
Telefon: (0511) 532-4599