MHH-Projekt untersucht Unterschiede bei neurologischen Symptomen zwischen Multipler Sklerose und dem seltenen Sjögren-Syndrom
Unterschiedliche Erkrankungen können ähnliche Symptome hervorrufen. Für die Behandlung ist es jedoch wichtig zu wissen, welche Ursache für die Beschwerden verantwortlich ist. Denn ein Medikament, das gegen die eine Krankheit hilft, kann bei der anderen wirkungslos oder sogar schädlich sein. Genau dieses Problem stellt sich bei der Therapie von Multipler Sklerose (MS) und dem Sjögren-Syndrom. Beide zählen zu den Autoimmunerkrankungen, die durch eine Überregulierung des Immunsystems entstehen. Zwar äußert sich MS vor allem in sogenannten Demyelinisierungsherden, bei denen die schützende äußere Schicht um die Nerven in Gehirn und Rückenmark zerstört wird. Beim Sjögren-Syndrom dagegen werden vor allem die Speichel- und Tränendrüsen angegriffen. Aber die Entzündungen können ebenso wie bei MS auch die Nerven in Gehirn und Rückenmark angreifen und so Lähmungen, Müdigkeit, Sensibilitätsstörungen oder auch Sehschäden verursachen.
Wie sich die klinisch sehr ähnlichen Krankheitsbilder voneinander abgrenzen lassen, untersucht nun ein Forschungsteam um Dr. Tabea Seeliger, Assistenzärztin in der Klinik für Neurologie mit Klinischer Neurophysiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Der Fokus liegt dabei auf den Schädigungen im zentralen Nervensystem. „Wir wollen die diagnostische Unterscheidung verbessern und damit optimale Therapiestrategien für Betroffene ermöglichen“, sagt die Medizinerin. Für das Projekt ist sie mit dem mit 50.000 Euro dotierten renommierten Oppenheim-Förderpreis für wissenschaftliche Forschung im Bereich Multiple Sklerose ausgezeichnet worden.
Größte Kohorte in Deutschland
Für ihre Untersuchungen wollen die Forschenden eine Studiengruppe aus 288 Erkrankten mit MS, Sjögren oder einer Kombination aus beiden Krankheitsbildern schaffen. Obwohl das Sjögren-Syndrom zu den eher seltenen Erkrankungen zählt, betreut die MHH dank ihrer großen Expertise die größte Kohorte Betroffener in Deutschland und kann daher auf eine ausreichend große Anzahl an Fällen mit neurologischen Problemen zugreifen. „Polyneuropathien mit Lähmungen und andere neurologische Ausfallerscheinungen sind bei Sjögren-Betroffenen nicht so häufig wie die Entzündungen der Speichel- und Tränendrüsen, kommen aber dennoch häufiger vor und zeigen teils schwerere Verläufe als bislang gedacht“, erklärt Professor Dr. Thomas Skripuletz.
Der Test auf Sjögren ist in der Neurologie der MHH insbesondere bei schweren Polyneuropathien Routine. Dabei werden Tränen- und Speichelproben der Betroffenen untersucht. Ergibt sich ein Verdacht, entnimmt ein Arzt oder eine Ärztin der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde nach einer örtlichen Betäubung durch eine Unterlippenbiopsie kleine Speicheldrüsen, die unter dem Mikroskop analysiert werden. So lässt sich das Sjögren-Syndrom beweisen oder ausschließen. „Wir forschen schon seit Jahren an dem Thema und haben mittlerweile mehr als 500 Patientinnen und Patienten in unserer Kohorte, davon die Hälfte mit neurologischen Symptomen“, betont der Neuroimmunologe.
Im Rahmen der Studie sollen zunächst MRT-Aufnahmen des Schädels und des Rückenmarks angefertigt werden, bei denen das Augenmerk vor allem auf entzündlichen Veränderungen liegt. „Wir schauen uns an, wie viele Läsionen es gibt, wie sie genau aussehen und wo sie sich befinden“, erklärt Projektleiterin Dr. Seeliger. Außerdem suchen die Forschenden im Blutserum und im Nervenwasser der Patientinnen und Patienten nach sogenannten Autoantigenen. Das sind körpereigene Strukturen etwa auf den Zelloberflächen, die vom Immunsystem fälschlicherweise nicht als körpereigen erkannt werden und bekämpft werden. Als mögliche Biomarker könnten sie eine genaue Diagnose erleichtern. Auch könnte die genaue Analyse des Stoffwechsels der Erkrankten Aufschluss über die speziellen Verläufe bei MS und Sjögren verschaffen.
Therapieentscheidungen verbessern
Mit den neuen Erkenntnissen, so hoffen die Forschenden, könnte sich auch die Therapie für die Betroffenen verbessern. Gegen MS sind zwar Medikamente auf dem Markt, heilbar ist die Erkrankung jedoch nicht. Und gegen das Sjögren-Syndrom gibt es noch gar keine zugelassenen Medikamente, die Therapie ist immer eine Einzelfallentscheidung. „Wenn wir mehr wissen, können wir genauer vorhersagen, welche MS-Medikamente auch bei Sjögren helfen könnten und welche eher negativ wirken“, erläutert Professor Skripuletz. Vielversprechende Therapieansätze könnten zudem auch Ausgang für eine klinische Studie sein. „Das Sjögren-Syndrom ist vermutlich unterdiagnostiziert“, sagt der Neuroimmunologe. In Deutschland leide etwa jeder 500. Mensch an einer MS. Zwei Prozent davon, so schätzt der Mediziner, sind auch vom Sjögren-Syndrom betroffen.
Das Projekt erfolgt in Kooperation mit der MHH-Klinik für Rheumatologie und Immunologie, dem MHH-Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie sowie dem Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM.
Text: Kirsten Pötzke