Zum Tag der Seltenen Erkrankungen stellen wir unser darauf spezialisiertes Zentrum vor. Ein Interview mit Dr. Ringshausen aus der Bronchiektasenambulanz.
Stand: 27. Februar 2021
Zum weltweiten Tag der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar soll auf die Belange von betroffenen Menschen aufmerksam gemacht werden. Ab wann eine Erkrankung als selten eingestuft wird, wie die Diagnose und die Behandlung in unserem Zentrum für seltene Erkrankungen verläuft und wieso dieser Job so spannend ist, erzählt der Pneumologe PD Dr. Felix Ringshausen im Interview. Er ist Oberarzt und leitet den Schwerpunkt Bronchiektasen (krankhafte Erweiterungen in den Bronchien) und Mukoviszidose (angeborene Stoffwechselerkrankung). Seit einigen Jahren bietet die Klinik für Pneumologie eine Ambulanz für Patientinnen und Patienten mit Bronchiektasen, die nicht durch eine Mukoviszidose bedingt sind, Primärer Ciliärer Dyskinesie (PCD, angeborene Störung der Flimmerhäarchen der Atemwege) oder dem Kartagener Syndrom (PCD mit Situs inversus/seitenverkehrter Anlage der inneren Organe).
Dr. Ringshausen, ab wann gilt eine Erkrankung als selten?
Nach Definition der EU-Kommission gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie weniger als 5 pro 10.000 Einwohner betrifft.
Warum gibt es die Ambulanz für Bronchiektasen, PCD und Kartagener Syndrom bzw. das ZSE-B-Zentrum für PCD und Kartagener Syndrom an der MHH?
In erster Linie, soll unsere Bronchiektasen-Ambulanz und das ZSE-B-Zentrum Betroffenen und deren Angehörigen, aber auch deren Behandlerinnen und Behandlern als Anlaufstelle dienen. Die adäquate medizinische Behandlung der Patientinnen und Patienten wird hier durch die Tatsache erschwert, dass bis heute keine Medikamente zur Behandlung von Bronchiektasen, PCD und dem Kartagener Syndrom zugelassen sind. Während die Verordnung zugelassener Medikamente unproblematisch ist und die Kosten in jedem Fall von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bezahlt werden muss, müssen alle notwendigen Arzneimittelverordnungen zulassungsübergreifend („Off-label“) erfolgen, was insbesondere bei den niedergelassenen Ärzten, die den überwiegenden Teil der Patienten behandeln, ein erhebliches Problem darstellt. Bei der Off-label-Verordnung besteht die Gefahr eines Arzneimittelregresses, das heißt die Ärztinnen und Ärzte haften dann persönlich für die Kosten der Therapie, die die GKV, anders als bei zugelassenen Medikamenten, nur unter besonderen Umständen übernimmt wie eine schwere Erkrankung, keine zugelassenen Alternativen oder Aussicht auf Erfolg. Das medizinische Risiko einer Off-label-Verordnung ist bei sachgerechter Anwendung ja meist sehr überschaubar. Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sind hierbei stets in der Defensive, der Regress folgt oft Jahre später, sodass notwendige Verordnungen unterbleiben und die Patientinnen und Patienten allenfalls wie an COPD-Erkrankte (eine chronisch fortschreitende Erkrankung der Lunge) behandelt werden, wenn die Lungenfunktion entsprechend eingeschränkt ist.
Und welche Expertise unterscheidet das Zentrum von anderen Zentren?
Den Schwerpunkten der MHH entsprechend verfügen wir über eine besondere Expertise in der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit endgradiger Lungenmanifestation also zum Beispiel ausgedehnte Bronchiektasen-Erkrankung, Transplantationsvorbereitung und -evaluation sowie komplexen und schwierig zu behandelnden chronischen Infektionen, vor allem durch multiresistente gramnegative Erreger oder nichttuberkulöse Mykobakterien. Diese besondere Expertise ist vor allem dann von Bedeutung, wenn diese Infektionen zu vergleichsweise seltenen oder schwerwiegenden Komplikationen wie Lungenblutungen, Lungenkollaps oder Atmungsversagen führen oder ein interdisziplinäres Management erfordern. Etwa die chronische Rhinosinusitis mit Nasenpolypen (dauerhaft anhaltende Entzündung der Schleimhäute in der Nase und den Nasennebenhöhlen), die chronische Otitis media (dauerhaft anhaltende Mittelohrentzündung) mit Schalleitungsschwerhörigkeit, der unerfüllte Kinderwunsch oder Fertilitätsberatung bei PCD oder dem Kartagener Syndrom sowie die Begleitung einer Risikoschwangerschaft und Entbindung verlangen die Expertise vieler verschiedener Fachbereiche.
Meistens sind es zum Glück aber die vermeintlich kleinen Dinge, bei denen wir unser Expertenwissen im Sinne eines „Lotsen im Dschungel der Schlupflöcher und Paragrafen“ des Sozialgesetzbuch V oder zur Stärkung des Selbstmanagements, wie zum Beispiel durch die Vermittlung an eine spezialisierte physiotherapeutische Atemtherapeutin in der Nähe des Heimatortes, zum Einsatz bringen. Für diese besondere Expertise legen unsere Patientinnen und Patienten immerhin mindestens ein bis zwei Mal im Jahr eine einfache Strecke von durchschnittlich 105 km zur MHH zurück.
Wie gehen Sie an die Behandlung und Diagnose einer seltenen Erkrankung heran?
Wir verfolgen einen gänzlich patientenzentrierten Behandlungsansatz. Ein großer Teil der uns vorgestellten Patientinnen und Patienten hat noch keine ursächliche Diagnose und wird uns aufgrund seiner Bronchiektasen-Erkrankung vorgestellt. Bei anderen Patienten, die wir mit etablierter Diagnose bereits über Jahre oder gar Jahrzehnte betreuen, machen wir regelmäßige Kontrollen im Sinne eines vorausschauenden Erkrankungsmanagements und versuchen stets die Behandlung den neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Erfordernissen der Patientin oder des Patienten anzupassen.
Bei einer Neuvorstellung: Um einen effizienten Ablauf mit hohem Wirkungsgrad im Sinne der Patientinnen und des Patienten zu gewährleisten, beginnt das Kennenlernen der Betroffenen und der persönlichen Geschichte bereits vor dem ersten Termin. Hierfür werden die in aller Regel bereits umfangreichen vorliegenden Befunde und CT-Aufnahmen gesichtet und ein diagnostischer Plan für den Tag des Ambulanzbesuchs vorbereitet. Im Zentrum steht dennoch - es mag banal klingen - das eingehende Anamnesegespräch, die klinische Untersuchung und das Aufstellen eines an die Bedürfnisse der Patientin oder des Patienten angepassten therapeutischen Plans. Das exakte Wissen um die eigene Diagnose ist meiner Erfahrung nach ein menschliches Grundbedürfnis und Grundrecht. Es hat schon etwas sehr Befriedigendes die Diagnose einer seltenen angeborenen Erkrankung auf der Basis von Anamnese, Klinik und gegebenenfalls einem weiteren Screeningtest nach bis dahin lebenslangem Irrtum stellen zu können - und diese dann hier an der MHH innerhalb von sechs bis acht Wochen mittels molekulargenetischer Diagnostik über jeden Zweifel erhaben bestätigen zu können. Letztlich ermöglicht auch erst das Wissen um die exakte Diagnose eine personalisierte Therapie.