Mit 1,1 Millionen Euro gefördert: MHH-Projekt untersucht, wie sich körpereigene Polysialinsäure gegen neurodegenerative Prozesse einsetzen lässt.
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen. Unter diesem Begriff werden eine Reihe von Krankheiten zusammengefasst, die entweder körperliche oder geistige Fähigkeiten der Betroffenen beeinträchtigen. Dazu zählen auch Alzheimer und andere Demenzerkrankungen, an denen allein in Deutschland schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen leiden. Und jedes Jahr kommen zwischen 360.000 und 440.000 neu Erkrankte hinzu. Ursache sind Veränderungen im Gehirn, bei denen Nervenzellen absterben oder die Kommunikation zwischen den Neuronen gestört ist. Die Behandlungsmöglichkeiten sind beschränkt, eine Heilung gibt es nicht. Ein Forschungsteam vom Institut für Klinische Biochemie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat herausgefunden, dass die körpereigene Zuckerverbindung Polysialinsäure (PolySia) gegen neurodegenerative Prozesse helfen könnte. In einem Verbundprojekt unter der Leitung von Dr. Hauke Thiesler untersuchen die Forschenden nun, wie sich PolySia nutzen lässt, um gezielt der neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa der Demenz entgegenzuwirken. Das Projekt „CogniSia“ in Kooperation mit der Forschungsgruppe „Molekulare Neuroplastizität“ des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Magdeburg wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für zwei Jahre mit 1,1 Millionen Euro gefördert.
Information zielgerichtet weiterleiten
„Sialinsäuren sind Schlüsselkomponenten vieler zellulärer Kommunikationsprozesse und sind für die Entwicklung und Funktion unseres Nervensystems unverzichtbar“, sagt Professorin Dr. Rita Gerardy-Schahn, die frühere Leiterin des MHH-Instituts. Im Gehirn wirkt PolySia auch im Hippocampus – eine Art Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis – und dem präfrontalen Kortex, zuständig für höhere kognitive Funktionen, einschließlich Sprache, Gedächtnis, Problemlösung und Urteilsvermögen. In diesen Gehirnbereichen ist das Zuckerpolymer wesentlich an der Regulation der Weitergabe von Informationen von einem Nerven zum nächsten beteiligt. Bei Demenzkranken ist dieser Vorgang gestört.
Die Zuckerverbindung PolySia kommt im Gehirn allerdings in einer Vielzahl unterschiedlicher Längen vor. Bislang war unklar, ob diese auch unterschiedliche Funktionen haben. Das Forschungsteam konzentriert sich auf die kurzkettigen Polymere, für die gezeigt wurde, dass sie eine wichtige Rolle am sogenannten synaptischen Spalt spielen. In diesen schmalen Zwischenraum zwischen zwei Nervenenden werden Botenstoffe entlassen, die an spezifische Empfängermoleküle binden. PolySia sorgt dafür, dass die Botenstoffe an die richtigen Bindungsstellen im Zentrum der Synapse andocken. „Auf diese Weise wird ein starkes Signal zum nächsten Nerv weitergeleitet“, erklärt Professorin Gerardy-Schahn. Das geschieht, indem das Zuckerpolymer am Rande der Synapse liegende Bindungsstellen blockiert. Denn würden die Botenstoffe auch dort andocken, entstünde eine Art Störfeuer, und das Signal für die Information würde sich abschwächen. Mit höherem Lebensalter nimmt die Konzentration an PolySia im Gehirn ab. „Bei Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen ist das Level dann noch einmal deutlich geringer“, stellt Dr. Thiesler fest. „Das fördert die gestörte Signalübertragung an den Nervenübergängen.“ Die Folgen sind Vergesslichkeit und Demenz.
In Voruntersuchungen konnte das Forschungsteam bereits am Mausmodell für Alzheimer-Erkrankung zeigen, dass kurzkettige PolySia einer ganz bestimmten Länge die Gehirnleistung steigern konnte. „Wir haben beobachtet, dass bereits eine einmalige Gabe von PolySia genügte, damit das Störfeuer unterbunden wurde und sich die Gedächtnisleitung deutlich verbesserte“, betont Dr. Thiesler. Untersuchungen im Fluoressenzmikroskop bestätigten zudem, dass die über die Nase verabreichte PolySia tatsächlich im Gehirn der Mäuse ankommt. In ihrem Projekt wollen die Forschenden nun die Wirkmechanismen der PolySia im molekularen Detail untersuchen.
Produktionsplattform für effiziente Herstellung
Ein weiteres Ziel ist, eine effiziente Produktions-Plattform aufzubauen, damit die wirksame Größe der PolySia in ausreichender Menge und kostengünstig hergestellt werden kann. Zu diesem Zweck haben die Forschenden das Enzym, welches den Einzelzucker Sialinsäure zu PolySia verknüpfen kann, biotechnologisch weiterentwickelt, dass in erster Linie die gewünschte Kettenlänge entsteht. „Zudem erhalten wir ein chemisch ultrareines Produkt ohne Abfall und in ausreichender Menge“, erklärt der Biochemiker. Die Anwendung sowie das Isolationsverfahren sind bereits patentiert Als nächstes wollen die Forschenden den Effekt in menschlichen Zellkulturen bestätigen. „Danach könnten wir dann in die klinische Phase eintreten“, hofft Dr. Thiesler.
Funktioniert alles wie erwartet, könnte in einigen Jahren ein PolySia-Nasenspray auf den Markt kommen, das dafür sorgt, Demenzerkrankungen abzumildern und Menschen mit einem Risiko möglichst lange vor Demenz zu schützen, damit diese auch möglichst lange selbstbestimmt leben können.
Text: Kirsten Pötzke