AG Talbot
Die Arbeitsgruppe „Präklinische Datenwissenschaften (engl. Preclinical Data Science)“ ist ein translationales Bindeglied zwischen präklinischer und klinischer Forschung. Hierbei stehen insbesondere quantitative Methoden im Bereich der Grundlagenforschung im Vordergrund. Diese umfassen z.B. die Entwicklung neuer Algorithmen zur Bearbeitung biostatistischer Aufgabenstellungen, die Anwendung von maschinellem Lernen zur Mustererkennung in komplexen biologischen Daten sowie die statistische Planung, Begleitung und Auswertung von biomedizinischen (präklinischen) Studien.
Ein besonderer Schwerpunkt der AG liegt in der Entwicklung von Verfahren zur quantitativen Belastungseinschätzung von Versuchstieren sowie in Auswertungs- und Validierungsverfahren im Rahmen von multizentrischen Studien (z.B. bei der Entwicklung von tierversuchsfreien Methoden im Sinne des 3R Prinzips).
(Dr. Steven R. Talbot, AG Leitung)
Präklinische Datenwissenschaften & Biostatistik
Die präklinische Forschung steht vor zahlreichen Herausforderungen. Sie ist Wegbereiter großer und wichtiger biomedizinischer Studien. Hochwertige Grundlagenforschung ist ein zentrales Element des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Besonderes Augenmerk liegt daher auf der wissenschaftlichen Qualität der Versuchsplanungen, der generierten Ergebnisse sowie deren Auswertung. Für diese Punkte sind die modernen Datenwissenschaften (engl. Data Science) essenziell. Als translationales Bindeglied vermag diese Disziplin die präklinische Forschung nicht nur auf vielen Ebenen zu unterstützen und zu begleiten, sondern auch mit Hilfe quantitativer Methoden für den Menschen klinisch nutzbar zu machen.
Das kontroverse Thema Tierversuche steht dabei besonders im Fokus. Forschende müssen entscheiden, ob und in welcher Form der Einsatz von Tieren für ihre Forschungsziele notwendig oder gerechtfertigt ist. Im Sinne des 3R Prinzips („reduce“, „replace“, „refine“) soll dabei explizit über Alternativmethoden nachgedacht werden. Wo dies nicht sinnvoll ist, müssen Schmerzen, Leiden und Schäden der Versuchstiere minimiert oder ganz vermieden werden. Doch wie wird Belastung möglichst objektiv gemessen? Dieser Frage widmet sich die Arbeitsgruppe aus datenwissenschaftlicher Sicht. Die Frage nach der Belastungseinschätzung (engl. severity assessment) ist nicht nur essenziell für qualitativ hochwertige Grundlagenforschung, sie hat zudem enormes Potenzial z.B. bei der automatisierten Überwachung von Tieren und Menschen im klinischen Umfeld.
Darüber hinaus ist für einen abgesicherten Erkenntnisgewinn eine sorgfältige Versuchsplanung notwendig. So müssen z.B. Tierzahlen auf das wissenschaftlich notwendige Minimum reduziert werden. Dies setzt eine sorgfältige statistische Versuchsplanung, begleitende Hinweise bei der Studiendurchführung und letztendlich Unterstützung bei der biomedizinischen/statistischen Datenanalyse voraus. Nur über einen gut abgestimmten Forschungsprozess lassen sich abgesicherte Erkenntnisse im Rahmen der guten wissenschaftlichen Praxis (GWP) gewinnen. Diesen Prozess zu schärfen, zu erforschen und zu begleiten sind maßgebliche Aufgaben der präklinischen Datenwissenschaften.
Aktuelle Forschung
Im Rahmen der EU-Richtlinie 2010/63/EU ist in jedem Tierversuchsantrag eine prospektive Belastungsbewertung vorzunehmen. Weiterhin müssen Tiere im Versuch überwacht werden. Doch wie kann Belastung hierbei objektiv überwacht, gemessen und kontextualisiert werden?
Im Rahmen der von der DFG-geförderten Forschungsgruppe FOR2591 Severity Assessment [www.severity-assessment.de] entwickeln wir Lösungen, Algorithmen und Verfahren zur quantitativen Belastungseinschätzung.
Die von uns entwickelte Severity Toolbox stellt hierbei Werkzeuge (R-Pakete) zur Verfügung, die es Forschenden ermöglichen, auf unterschiedlichen Wegen Belastung von Tieren zu messen, zu vergleichen und auszuwerten. Hierbei ist insbesondere der Relative Severity Assessment Score (RELSA) [https://talbotsr.com/RELSA/index.html] zu nennen, der mehrdimensionale Eingangssignale fusioniert und mit dessen Hilfe Einzeltiere und Gruppen sowie Tiermodelle quantitativ verglichen werden können.
Das klinische Patientenmonitoring generiert eine Vielzahl von Parametern über unterschiedliche Zeiträume, die nicht nur von der Art der Erkrankung abhängen, sondern auch von mehreren anderen Faktoren wie der Behandlung. Wenngleich die Entgleisung einzelner Parameter medizinisch leicht zu überwachen ist, führt die parallele Auswertung vieler Parameter zu einer schlecht beherrschbaren Situation.
Der von uns entwickelte Patient Vital Status (PVS) greift in diesem translationalen Projekt die Idee eines Fusionsscores auf und wendet ihn auf humane klinische Daten an. Ziel des Projekts ist es, eine automatisierte Überwachung des Belastungszustands einzelner Patienten in einem Wert darzustellen, so dass mehrdimensionale Zustandsänderungen regularisiert und kontextualisiert werden. Dies ermöglicht die parallele Überwachung von Mess- und Vitalwertentgleisungen sowie deren Quantifizierung.
Das Projekt wurde stellenweise von der Else-Kröner Fresenius Stiftung (EKFZ) finanziert.
Die Reproduzierbarkeitskrise in den Medizin- und Lebenswissenschaften hat gezeigt, dass Studienergebnisse oftmals nicht ausreichend robust sind, was ihren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn limitiert. Insbesondere in vivo-nahe Zellkultur-Modelle, wie z.B. Organoide, können eine große experimentelle Varianz aufweisen, was sowohl die statistische Versuchsplanung als auch die Auswertung erschweren kann.
Ziel dieses Projektes ist daher die statistische Absicherung der Versuchsplanungen sowie die Durchführung interner und externer Validierungsverfahren im Rahmen von Ringversuchen bzw. multizentrischen Studien, sowohl bei Tiermodellen als auch bei Alternativsystemen zum Tierversuch. Dies soll der Aufklärung von Robustheitsschätzern sowie Quellen von experimenteller Varianz dienen.
Das Projekt ist Teil des Forschungsverbunds „Mikro-Replace-Systeme“ und wird vom Land Niedersachsen gefördert (zukunft.niedersachsen).
Lehre
Über das Institut für Versuchstierkunde der MHH bieten wir curriculare Grundlagenkurse in präklinischer Statistik an. Wenn Sie Interesse an einem gesonderten Kurs haben, sprechen Sie uns gerne an.
- Statistik I - Statistik und biometrische Methoden in der Versuchstierkunde
- Statistik II - Statistische/biometrische Planung von Tierversuchen – „Powerkurs“
Die Kurse finden Sie hier. (https://www.mhh.de/tierlabor/lehr-und-sachkundeveranstaltungen/curriculare-lehre-aufbaumodule)
Publikationen
- Talbot, S.R., Kumstel, S., Schulz, B. et al. Robustness of a multivariate composite score when evaluating distress of animal models for gastrointestinal diseases. Sci Rep 13, 2605 (2023).
- Maria Reiber, Lara von Schumann, Verena Buchecker, Lena Boldt, Peter Gass, André Bleich, Steven Roger Talbot, Heidrun Potschka. Evidence-based comparative severity assessment in young and adult mice. PLOS ONE 18(10): e0285429 (2023).
- Maria Reiber, Lara von Schumann, Verena Buchecker, Lena Boldt, Peter Gass, André Bleich, Steven Roger Talbot, Heidrun Potschka (2023). Evidence-based comparative severity assessment in young and adult mice. PLOS ONE 18(10): e0285429.
- Tix L, Ernst L, Bungardt B, Talbot SR, Hilken G, Tolba RH (2023) Establishment of the body condition score for adult female Xenopus laevis. PLoS ONE 18(4): e0280000.
- Talbot SR, Struve B, Wassermann L, Heider M, Weegh N, Knape T, Hofmann MCJ, von Knethen A, Jirkof P, Häger C and Bleich A (2022) RELSA—A multidimensional procedure for the comparative assessment of well-being and the quantitative determination of severity in experimental procedures. Front. Vet. Sci. 9:937711.
- Alice Rovai, BoMee Chung, Qingluan Hu, Sebastian Hook, Qinggong Yuan, Tibor Kempf, Florian Schmidt, Dirk Grimm, Steven R. Talbot, Lars Steinbrück, Jasper Götting, Jens Bohne, Simon A. Krooss & Michael Ott. In vivo adenine base editing reverts C282Y and improves iron metabolism in hemochromatosis mice. Nat Commun 13, 5215 (2022).
- Schmidt T, Meller S, Talbot SR, Berk BA, Law TH, Hobbs SL, Meyerhoff N, Packer RMA and Volk HA (2022) Urinary Neurotransmitter Patterns Are Altered in Canine Epilepsy. Front. Vet. Sci. 9:893013.
- Lisa Ernst, Stefan Bruch, Marcin Kopaczka, Dorit Merhof, André Bleich, René H. Tolba & Steven R. Talbot. A model-specific simplification of the Mouse Grimace Scale based on the pain response of intraperitoneal CCl4 injections. Sci Rep 12, 10910 (2022).
- Zentrich E, Talbot SR, Bleich A and Häger C (2021) Automated Home-Cage Monitoring During Acute Experimental Colitis in Mice. Front. Neurosci.. 2021; 15:760606.
- Helgers, S.O.A., Talbot, S.R., Riedesel, A. et al. Body weight algorithm predicts humane endpoint in an intracranial rat glioma model. Sci Rep 10, 9020 (2020).