Vorsicht beim Pilzesammeln: Viele Speisepilze haben giftige Doppelgänger. Der MHH beschert vor allem der Knollenblätterpilz jedes Jahr neue Vergiftungsfälle.
Stand: 11. September 2020
Der Grüne Knollenblätterpilz ist einer der giftigsten Pilze in Deutschland und für mehr als 90 Prozent der tödlich verlaufenden Pilzvergiftungen verantwortlich. Das Problem: Er sieht völlig harmlos aus und ähnelt beliebten Speisepilzen wie dem Frauentäubling oder im frühen Stadium dem Champignon. Eine fatale Verwechslungsgefahr besteht gerade jetzt zur Pilz-Hochsaison in unseren Wäldern. Warum Sie nach dem Verzehr von Pilzen schon bei den geringsten Symptomen schnell handeln sollten, erklärt Professor Dr. Heiner Wedemeyer, Direktor der MHH-Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie.
Frage: Wie viele Fälle von Pilzvergiftung gibt es jährlich an der MHH?
Prof. Wedemeyer: Vorweg muss man unterscheiden zwischen einer Pilzvergiftung und einer Pilzunverträglichkeit. Bei einer Vergiftung gibt es je nach Pilz verschiedene Toxine, die beim Menschen verschieden starke Symptome hervorrufen können. Wenn wir einen Patienten mit Symptomen wie etwas Durchfall und Bauchschmerzen haben, müssen wir aber erst mal klären, ob es nicht auch nur eine Unverträglichkeit oder allergische Reaktion ist. Das kann dann gut symptomatisch behandelt werden. Bei einer Pilzvergiftung sieht das natürlich anders aus. Da haben wir jeden Herbst zwischen fünf und 20 Patienten, die schwer erkrankt und gefährdet sind. Hauptverursacher ist dabei der Knollenblätterpilz.
Frage: Warum ausgerechnet der Knollenblätterpilz?
Prof. Wedemeyer: Dieser Pilz ist extrem gefährlich. Schon ein einzelner normal großer Pilz kann beim Verzehr tödlich sein - das ist für eine Giftdosis erstaunlich wenig. Sein Gift bewirkt ein akutes Leberversagen. Im schlimmsten Fall hilft dann nur noch eine Lebertransplantation. Das Problem ist, das der Pilz auch einem Speisepilz sehr ähnlich sieht, der unter anderem in Russland, aber auch Syrien weit verbreitet ist. 2015 hatten wir deshalb sehr viele Fälle unter den damals zahlreichen syrischen Flüchtlingen. Die MHH hatte extra Warnplakate in verschiedenen Sprachen erstellt, die die Menschen über die Gefahr informieren sollten. Heute haben wir an der MHH sehr viele Betroffene, die aus Osteuropa oder den Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammen. Nicht selten sind es dann ganze Familien, die zu uns kommen, weil sie alle gemeinsam von den Pilzen gegessen haben. In meiner Klinik in Essen (Anm.: Prof. Dr. Wedemeyer war von 2018 bis 2020 an der Universität Duisburg-Essen tätig) hatten wir einmal zwei Familien gleichzeitig. Die mussten wir auf die Kliniken verteilen, um sie alle intensivmedizinisch behandeln zu können.
Frage: Was genau bewirkt dieser Pilz im menschlichen Körper?
Prof. Wedemeyer: Das Gift des Knollenblätterpilzes, das Amanitin, ist ein Gift, das die Leberzellen schädigt. Die Zellen zerfallen und können sich nicht mehr regenerieren. Allerdings spürt der Patient das nicht sofort. Bis auf leichte, eher unspezifische Symptome im Magen-Darmbereich, fühlen sich die meisten Betroffenen zwölf bis 24 Stunden nach dem Verzehr der giftigen Pilze noch gesund. Doch dann geht es sehr schnell, dann zerfällt die Leber. Es können zwar auch andere Zellen geschädigt werden. Da aber das Gift primär von der Leber, der ersten Filterstation im Körper, aufgenommen wird, ist sie auch primär betroffen.
Frage: Welche Symptome treten dann auf?
Prof. Wedemeyer: Die Leber erfüllt ja mehrere Funktionen. Sie ist Gift-Klärwerk, Kraftwerk und Speicherorgan in einem. Wenn diese Funktionen nicht mehr gegeben sind, fängt es an mit Müdigkeit, Abgeschlagenheit und leichter Verwirrtheit. Es kommt zu Störungen im Gehirn, auch hepatische Enzephalopathie genannt. Ammoniak und andere Stoffe vergiften dabei das Gehirn, weil sie nicht mehr von der Leber unschädlich gemacht werden und sich im Blut anreichern. Der Stoffwechsel funktioniert nicht mehr richtig, was unter anderem zu einer Unterzuckerung führen kann. Besonders fatal ist, dass die Blutgerinnung nicht mehr funktioniert, weil die Eiweiße dafür nicht produziert werden. Wenn nichts getan wird, droht der Patient zu verbluten.
Frage: Wie wird der Patient behandelt?
Prof. Wedemeyer: Wir geben einmal Substanzen zur Entgiftung, also unter anderem Antioxidantien und Acetylcystein. Und wir versuchen, die Gifte zu binden. Dafür wird dann Aktivkohle verabreicht, die jeder von Durchfallerkrankungen kennen dürfte. Wenn wir das alles früh genug machen, dann erholt sich die Leber auch schnell, sie regeneriert sich. Dann bleibt auch kein Langzeitschaden. Die Leber ist erstaunlich, sie kann immer sehr schnell wieder nachwachsen - selbst wenn sie zum Beispiel bei einer Krebserkrankung halb weggeschnitten werden muss.
Frage: So eine Vergiftung ist also sehr gut therapierbar?
Prof. Wedemeyer: Im Idealfall bei sonst gesunden Patienten ja. Aber der Idealfall ist natürlich nicht immer gegeben. Es gibt Patienten, die sind zum Beispiel etwas dicker und trinken übermäßig Alkohol - das heißt, die Leber ist vorgeschädigt. Dann kommt es zu dem Problem, was wir "akut auf chronisch" nennen. Wer einen chronischen Leberschaden hat und dann noch etwas Akutes dazu bekommt wie eine Pilzvergiftung, der hat häufig eine schlechte Prognose. Dann bleibt als einzige Chance nur eine Lebertransplantation.
Frage: Und Spenderorgane sind nicht einfach zu bekommen.
Prof. Wedemeyer: In unserem System ist es bei chronisch Kranken so, dass wir Parameter haben, nach denen wir angeben können, wie wahrscheinlich es ist, dass zum Beispiel ein Leber-Patient nach drei Monaten stirbt. Wenn diese Wahrscheinlichkeit hoch ist, bekommt der Patient mehr Punkte und früher ein Organ. Das ist natürlich manchmal ungerecht, wenn Menschen lange warten müssen, weil sie nicht krank genug sind. Aber das ist ein anderes Thema. Bei unserem Fall eines chronisch-kranken Patienten mit akuter Pilzvergiftung würde dieses Verfahren viel zu lange dauern. Der Patient wäre nach drei Tagen tot. Deshalb gibt es das High-Urgency-System. Hier in Hannover gibt es in solchen Fällen dann eine Lebertransplantationskonferenz mit allen an der Transplantation Beteiligten: Chirurgen, Internisten, Anästhesisten, Psychiater, ein unabhängiger Vertreter des ärztlichen Direktors. Diese Menschen müssen dann entscheiden, ob das ein Patient ist, der in den nächsten 48 Stunden stirbt, wenn er nicht transplantiert wird. Bei einstimmiger Entscheidung wird ein Antrag bei Eurotransplant in den Niederlanden gestellt, wo wiederum Experten den Fall prüfen und im besten Fall ihr Ja geben. Dann bekommt unser Patient das nächste verfügbare Organ. Dabei muss man dann aber noch hoffen, dass dieses Organ auch passt - dass also die Größe stimmt und die Blutgruppe zum Beispiel. Wenn er das Organ dann aber hat, ist die Prognose auf volle Genesung sehr gut - anders als beispielsweise bei Krebspatienten, bei denen der Krebs wieder streuen kann.
Frage: Das sind dann aber Prozesse und Entscheidungen, bei denen es nur um wenige Stunden geht, die der Patient hat.
Prof. Wedemeyer: Ja. Es ist auch bei uns an der MHH so, dass jedes Jahr Menschen sterben. Aber: Wenn ein Patient auf eine Leber wartet und als High-Urgency-Fall gelistet ist, das Organ aber erst nach 96 Stunden kommt, hat er trotzdem bei uns noch sehr gute Chancen. Denn sein Überleben hängt von der Intensivstation ab, die sich mit der Entgiftung und der weiteren Behandlung gut auskennt. Und das ist bei uns - das Eigenlob muss sein - wirklich exzellent. Diese Expertise in der Intensivmedizin, die wir auf unseren Stationen 14 und 81 haben, finden Sie nicht überall.
Interview: Vanessa Meyer/MHH-Webredaktion