Hintergrund
Die professionelle Anwendung von Zwang in der Psychiatrie (wie Zwangsmedikation, Zwangsfixierung, Isolation) gehört zu den freiheitsentziehenden Maßnahmen, die alle Beteiligten (Patienten, Angehörige und professionelle Teams) wenn auch unterschiedlich aber doch in hohem Maße belasten. In Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Akutstationen sind Patienten und alle klinischen Berufsgruppen, zeitweise aber auch externe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei, Gerichte, Feuerwehr oder Rettungsdienst involviert. Die gesellschaftliche Relevanz des Themas (Größenordnung 200.000 – 300.000 Zwangsfixierungen pro Jahr in Deutschland allein in der Erwachsenenpsychiatrie) ist in der wissenschaftlichen Literatur unbestritten.
Die umfangreiche Studienlage zur Erforschung von Gefährdungssituationen in psychiatrischen Akutstationen legt nahe, dass Gewalt und Zwang gehäuft nur in bestimmten Situationen, zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten auftreten, z.B. vor Dienstzimmern oder geschlossenen Stationstüren, häufig montagvormittags, wenn die Therapieprogramme beginnen, oder zur Mittagsstunde, wenn die Teams für Gespräche seltener zur Verfügung stehen. In solchen Situationen scheinen sich Patienten und Teams gegenseitig herauszufordern und an ihre Grenzen zu bringen. Eine Zwangsmaßnahme ist letztlich ein Zeugnis davon, dass Kommunikation misslingt – „ein psychiatrischer Unfall“: Es scheitert der Versuch, die Konflikte in Gefährdungssituationen ohne Zwang zu lösen.
Das SRZP-Projekt erforscht die Entstehung und den Verlauf von Gewalt und Zwang in psychiatrischen Gefährdungssituationen. Die zentrale Frage lautet: was geschieht zwischen den Akteuren in psychiatrischen Gefährdungssituationen, in denen Zwang und Gewalt entweder eskalieren oder deeskalieren? Welche Gefährdungssituationen sind durch welche Kommunikationsmerkmale vergleichbar oder unterscheidbar. Was unterschiedet Gefährdungssituationen, in denen Deeskalation möglich ist, von solchen die eskalieren? Welche Regeln steuern die Interaktionen?
Übergeordnete Ziele
Auf der Basis eines sprach- und situationstheoretischen Ansatzes bestehen die übergeordneten Ziele unserer Forschungsgruppe in der…
- Rekonstruktion von psychiatrischen Gefährdungssituationen
- Identifikation von sprachlichen Mustern im Verlauf der Interaktionen mithilfe von lokutionären und illokutionären Aspekten von Sprechakten
- Identifikation von regulativen und konstitutiven Regeln, die die Interaktionsmuster steuern
- Identifikation der kommunikativen Gelingensbedingungen (Erfolgs-, Ernsthaftigkeit- und Wahrheitsbedingungen) von Äußerungsakten in psychiatrischen Gefährdungssituationen
- Systematisierung der Prozessdynamiken von Gefährdungssituationen mit Hilfe von Entscheidungsbäumen;
- Klassifikation und Typologie von Gefährdungssituationen
- Entwicklung wissenschaftlich unterstützter Alternativszenarien zur Anwendung von psychiatrischem Zwang
An der Studie in einer forensischen und zwei allgemeinpsychiatrischen Akutstation in Kliniken der Region Hannover haben sich etwa 60 Personen, in der Mehrzahl Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, beteiligt. Die Datengrundlage besteht aus Videoaufzeichnungen von Gefährdungssituationen, die von den Beteiligten mit Hilfe der Methode des Psychodramas reinszeniert wurden. Die anschließende short-term-Analyse führte zur Identifikation mehrerer Interaktionsmuster, wie etwa „negative Reziprozität“ oder „Über-Fordern“. Die long-term-Analyse zeigt, wie Interaktionsprozesse in typische Phasen kurz vor der unmittelbaren Zwangsanwendung eingeteilt werden können.
Publikationen:
- Radovic, M., Debus, S. 2019 Zur Kommunikationsstruktur von Gefährdungssituationen - PART II: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). Psych.Prax. 46(Suppl.1): S21-S28.
- Debus, S., Radovic, M. 2019 Zur Kommunikationsdynamik von Gefährdungssituationen - PART III: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). Psych.Prax. 46(Suppl.1): S29-S37.
- Ahrens, U., Haage, J., Luzycki, T., Milark, S., Debus, S. 2019 Fallstudie: Entwicklung von symbolischen Alternativen zur physischen Zwangsanwendung in Gefährdungssituationen - PART IV: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). Psych.Prax. 46(Suppl.1): S38-S49.
Psychiatrische Gefährdungssituation im notfallpsychiatrischen Rettungsdienst unterscheiden sich grundlegend in ihrer Komplexität von klinischen Gefährdungssituationen. Es variieren sowohl die Orte der Situationen (z.B. Private Haushalte, Straße, Sozial Einrichtungen, Kliniken, Hausärzte) als auch die Zusammensetzung der Rettungsteams (Feuerwehr, Polizei, Notarzt, notärztlicher Dienst, sozialpsychiatrischer Dienst, Sanitäter) und anderer beteiligter Personen (Angehörige, Straßenpassanten, angrenzende Hausbewohner, „Gaffer“ etc.). Insbesondere werden die Notfalleinsätze, ganz im Gegensatz zur Klinik, über eine Rettungsleitzentrale gesteuert. Interaktive Verläufe und Regeln der Notfalleinsätze sind daher komplexer und erfordern besondere Methoden der sprechakttheoretisch fundierten Diskursanalyse.
Die Erforschung des interaktiven und kommunikativen Verhaltens der Akteure in psychiatrischen Gefährdungssituationen erfordert die Entwicklung innovativer Methoden zur sequenzieller Sprachanalyse des Videomaterials. Den theoretischen Hintergrund liefert die Semiotik mit ihren Teildisziplinen: Semantik, Syntaktik und Pragmatik. In unserem Forschungsprojekt haben wir speziell die Sprechaktanalyse mit ihren präzisen Definitionen des Sprachverhaltens für die empirische Sprachforschung und für Reliabilitätsstudien nutzbar gemacht. Neue Herausforderungen bestehen in der Anwendung von situationssemantischen Konzepten.
Publikationen:
- Debus, S. 2019 Mixed-Methods-Design zur Analyse von Gefährdungssituationen mittels Kommunikationsprofilen - PART I: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). Psychiatrische Praxis 46(Suppl.1): S11-S20.
- Debus, S. 2019 Ein Kommunikationsmodell zur Durchsetzungsmacht in psychiatrischen Gefährdungssituationen - PART V: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). Psych.Prax. 46(Suppl.1): S50-S59.
- Posner, R., Debus, S. 2011 Semiotische Milieuforschung in der Sozialwissenschaft. Tübingen: Stauffenburg Verlag.
Wissenschaftliche Kollaborationen
Extern (deutschlandweit):
- Klinikum Region Hannover, Psychiatrie Langenhagen
- Klinikum Region Hannover, Forensische Psychiatrie, Wunstorf
- Sozialpsychiatrische Kontaktstelle Hannover
- Psychodramaforum, Berlin
- Technische Universität Berlin, Arbeitsstelle für Semiotik
- Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, Fächergruppe Mathematik, Statistik
- Fachhochschule Hannover, Fakultät V, Abt. Soziale Arbeit
- Fernuniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften
Extern (international):
- Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Fakultät für Kulturwissenschaften, Österreich
Ausstattung
Das SRZP-Projekt kooperiert mit dem Institut für Kultursemiotik. Das Institut stellt eine als „social Lab“ fungierende und für Videoaufnahmen speziell eingerichtete Seminarhalle zur Verfügung. Das „social Lab“ ist medial vernetzt mit einem Videoproduktionsstudio. Die Videos werden über eine interuniversitäre Internetplattform zur Analyse durch Studierende von Hochschulen und Universitäten im Rahmen der Erstellung von Promotionen, Master- und Bachelorarbeiten zur Verfügung gestellt:
Partizipatives Internet Portal Psychiatrie (PIPP): https://www.pipp.pro.
Forschungsgruppenmitglieder
Forschungsgruppenleitung
PD Dr. Stephan Debus
Hochschullehrer, SRZP-Projektleiter
Telefon: +49 05103 7067743
Telefax: -49 5103 7045892
Publikationen [PMID]: 9816602, 30743302, 30743305, 30743306, 30743307
Sonstige Positionen:
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Mitglied im FA Forschung, Deutsch. Gesell. Soz. Psychiatrie (DGSP)
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Sprecher des FA „Netzwerk: Psychiatrie ohne Gewalt“ (DGSP)
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Beiratsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS)
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Leiter des Instituts für Kultursemiotik, Wennigsen;
-
Langjähriger Herausgeber der Zeitschrift für Semiotik.
Telefon: +49 5103 7067743
Telefax: +49 5103 7045892
Doktorarbeit / Forschungsschwerpunkt: Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen – zur Kommunikationsstruktur von Gefährdungssituationen.
Publikationen: PMID30743303, PMID30743304
Telefon: +49 5103 7067743
Telefax: +49 5103 7045892
Doktorarbeit / Forschungsschwerpunkt: Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie: Konflikt- und Präventionsforschung im Rettungsdienst.
Telefon: +49 5103 7067743
Telefax: +49 5103 7045892
Sonstige Position: Mitbegründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift für Semiotik
Publikationen: PMID30743307
Telefon: +49 511 813993
Telefax: +49 5103 7045892
Sonstige Position: Psychodramaausbilder (Psychodramaforum Berlin)
Publikationen: PMID30743305
Telefon: +49 5103 7067743
Telefax: +49 5103 7045892
Masterarbeit: Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie (SRZP) – Sprechaktanalyse der Kommunikation von Krankenpflegenden in psychiatrischen Gefahrensituationen
Sonstige Position: Langjährige Pflegeleitung einer psychiatrischen Akutstation
Publikation: PMID30743305
Telefon: +49 5103 7067743
Telefax: +49 5103 7045892
Bachelorarbeit: Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie – Wie verlaufen Gefahrensituationen in der Psychiatrie ab und wie können sie deeskaliert werden? Prozessanalyse von Simulationen mithilfe des Psychodramas