Welche Vorteile der Patient von mehr Eigenverantwortung und Eigenständigkeit hat, erklärt Diplom-Pädagogin Dr. Gabriele Seidel.
Stand: 6. April 2023
Dr. Gabriele Seidel arbeitet in unserem Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Arbeitsschwerpunkt Patientenorientierung und Gesundheitsbildung und ist Geschäftsführerin der Patientenuniversität.
Welche konkreten Vorteile hat das Selbstmanagement für Patient:innen und welche Patientengruppen profitieren?
Dr. Seidel: Das Programm führt nachweislich zu einer Verbesserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens, der Lebensqualität, des Medikamentenmanagements und der Kommunikation mit Gesundheitsfachpersonen. Nachgewiesen wurden auch die Reduktion von Arzt- und Krankenhausbesuchen. Patientengruppen, die davon profitieren, sind chronisch Erkrankte und deren Angehörige. Insbesondere profitieren Frauen gegenüber Männern, Personen unter 60 Jahren gegenüber älteren Teilnehmenden und Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber Menschen ohne ein Migrationshintergrund.
Welche Vorteile hat unser Gesundheitssystem als Ganzes von so einer stärkeren Einbindung und Befähigung von Einzelpersonen in Gesundheitsbereiche, -entscheidungen?
Dr. Seidel: Immer mehr Menschen leiden an mehr als einer chronischen Erkrankung und müssen die Herausforderungen, die damit einhergehen, bewältigen, z. B. Schmerzen, Müdigkeit oder Bewegungseinschränkungen. In der ärztlichen Praxis geht es bei chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten neben einer adäquaten langfristigen Versorgung durch medizinisches Handeln immer auch um Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. Diese kann unmittelbar in der Praxis kaum geleistet werden, zumal hier jeweils singuläre Kontakte vorherrschen. Der Umgang mit der Erkrankung für die Menschen selbst ist hingegen eine immerwährende Aufgabe, die eine Reihe von Fähigkeiten erfordert. Ich denke, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen 99 Prozent ihrer Lebenszeit ihre Erkrankung selbst managen müssen, wo hingegen sie nur 1 Prozent ihrer Zeit im Gesundheitssystem verbringen. So sollten die Erkrankten in der Lage sein, den Umgang mit der Situation selbst zu organisieren, sich zu informieren, mit ihren Ärztinnen und Ärzten adäquat zu kommunizieren und für sich selbst gute Entscheidungen zu treffen.
Die MHH bietet mit der Patientenuniversität ein Programm an, das Patient:innen beim Selbstmanagement hilft. Wie funktioniert das konkret?
Dr. Seidel: Die 2006 an der MHH gegründete Patientenuniversität hat das Ziel, das Empowerment und die Gesundheitskompetenz der Menschen in der Region Hannover zu fördern. Dabei geht es um die Vermittlung von Wissen, die Stärkung der kommunikativen Kompetenzen und insbesondere um die Unterstützung der kritischen Kompetenz der Teilnehmenden, z. B. durch Informationen zu Patientenrechten, Qualitätsaspekten des Gesundheitswesens oder durch Lehreinheiten zum Verständnis wissenschaftlicher Studien und deren Reichweite.
Die besondere didaktische Struktur der Veranstaltungen liegt in einer Mischung aus Expertenvorträgen und interaktiven Lernstationen, an denen die Teilnehmenden das zuvor im Vortrag Gelernte im Gespräch mit Expertinnen und Experten vertiefen, Fragen stellen, selbst etwas ausprobieren, Hinweise auf gute Informationsquellen erhalten und den Zugang ausprobieren, Modelle betrachten, Experimente durchführen oder zum Beispiel Beratungsangebote in der Region kennenlernen können.
Seit der COVID-19-Pandemie mussten wir allerdings ein anderes Format entwickeln. In der neuen Veranstaltungsreihe „Klima(wandel) und Gesundheit“ finden die Veranstaltungen in Präsenz statt und Personen, die nicht zu uns kommen wollen oder können, haben die Möglichkeit sich über unseren YouTube-Kanal live zuzuschalten. Am Ende des Vortrags können alle Teilnehmenden ihre Fragen an die Expert:innen stellen. Da wir die Veranstaltungen aufnehmen, haben alle Menschen auch die Möglichkeit, die Vorträge später anzuschauen. Dazu haben wir ein Archiv auf unserer Internetseite eingerichtet. Und wir haben unseren „Pfadfinder Gesundheit“ neu aufgelegt. Hier kann man ganz einfach nach guten Gesundheitsinformationen suchen. Wir berücksichtigen bei der Suche von Gesundheitsinformationen und Internetseiten für den Pfadfinder Gesundheit besonders sogenannte „vertrauenswürdige Institutionen“, wie zum Beispiel ausdrücklich qualitätsgesicherte Informationen von Universitäten, Stiftung Warentest, Verbraucherzentrale, wissenschaftliche Fachgesellschaften, staatliche Einrichtungen, Ministerien und nachgeordnete Institute oder Selbsthilfeorganisationen.
INSEA wiederum ist ein überregionales Netzwerk speziell für chronisch erkrankte Menschen und Angehörige. Wie hilft dieses Netzwerk?
Dr. Seidel: Mit dem Netzwerk sind Strukturen entstanden, über die der Aufbau, die Organisation und das Management zur Verbreitung des Kursprogramms organisiert sind. Somit kann INSEA mit Unterstützung flächendeckend in Deutschland angeboten werden. Das INSEA-Netzwerk ist offen für verschiedene Institutionen und wird kontinuierlich ausgebaut. Zudem verbindet es Institutionen, die dem gemeinsamen Ziel der Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeiten von Menschen mit chronischen Erkrankungen und deren Angehörigen nachgehen. Auf der Internetseite von INSEA kann man nach den Präsenz- und Onlinekursen suchen. Alle Standorte stellen ihre Kursdaten dort ein.
Die Fragen stellte: Vanessa Niedzella